Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Leistungen des SGB 12 für einen von Leistungen des SGB 2 ausgeschlossenen Unionsbürger
Orientierungssatz
1. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S 2 Nr 2 SGB 2 werden Ausländer erfasst, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und denen ein materielles Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG nicht zur Verfügung steht.
2. War der Ausländer während seines Aufenthalts in Deutschland nicht für mehr als ein Jahr erwerbstätig und hat er sich nicht bereits seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, so scheidet ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 FreizügG ebenso aus wie die unbefristete Fortwirkung eines Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmer gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG.
3. Der von Leistungen des SGB 2 ausgeschlossene Unionsbürger hat aufgrund des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) Anspruch auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB 12 gegen den Sozialhilfeträger.
4. Die Voraussetzungen des Art. 1 EFA liegen vor, wenn der Unionsbürger sich erlaubt in Deutschland aufhält. Ein Unionsbürger, der sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhält. hat nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG ein Aufenthaltsrecht bis zu sechs Monaten und darüber hinaus, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin arbeitsuchend ist und begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.
5. Einer besonderen Beantragung von Leistungen des SGB 12 bedarf es hierzu nicht. Nach § 16 Abs. 1 SGB 1 gilt der Antrag auf Grundsicherungsleistungen auch als anspruchsauslösender Antrag auf gleichartige Leistungen nach dem SGB 12 (BSG Urteil vom 26. August 2008, B 8/9b SO 18/07 R).
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3 S. 1 Nr. 2, § 4a Abs. 1; SGB I § 16 Abs. 1, § 43; SGB III § 145; SGB XII § 21 S. 1, § 23 Abs. 3 S. 1; EFA Art. 1; EFA Art. 11 Abs. a S. 1; EGRL 38/2004 Art. 24 Abs. 1; SGG § 75 Abs. 5, § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners hin wird der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 15. Dezember 2015 aufgehoben.
Die Beigeladene ist im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 3. Dezember 2015 bis zum 30. März 2016 vorläufig unterhaltssichernde Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) sowie Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Der Antragsteller hat einen Zahlungsanspruch gegen den Beigeladenen nur insoweit, als er Leistungen nicht bereits von dem Antragsgegner erhalten hat.
Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Die Beigeladene hat dem Antragsteller die Hälfte von dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Gewährung unterhaltssichernder Leistungen sowie von Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung an den Antragsteller.
Der im Jahre 1971 geborene Antragsteller reiste im November 2012 aus seinem Heimatstaat H. in die Bundesrepublik Deutschland ein. Vom 10. Dezember 2012 bis zum 4. Februar 2013 war er in einer Zeitarbeitsfirma tätig. Zum 15. Februar 2013 nahm er eine Beschäftigung als Fahrer bei der Fa. I. in J. auf. Im April 2013 erkrankte er und wurde hierdurch für längere Zeit arbeitsunfähig. Der Geschäftsbetrieb der o.g. Firma wurde nach der Verhaftung des alleinigen Firmeninhabers Herrn K. im August 2013 eingestellt. Mit Versäumnisurteil vom 4. November 2013 erkannte das Arbeitsgericht Rheine dem Antragsteller einen Anspruch auf Lohnzahlung für die Zeit vom 1. März 2013 bis zum 26. Mai 2013 zu. Dieser Anspruch ließ sich jedoch nicht realisieren. Ein über das Vermögen der Firma beantragtes Insolvenzverfahren wurde vom Amtsgericht Münster am 3. April 2014 mangels Masse abgewiesen.
Der Antragsteller, der seit November 2013 in Osnabrück in einer Mietwohnung wohnt und hierfür eine Bruttowarmmiete von 395 EUR zu zahlen hat, erhielt in der Zeit vom 27. Mai 2013 (mit Unterbrechungen) bis zum 30. September 2014 Krankengeld und im Anschluss hieran (nach Aussteuerung aus dieser Leistung) - unterbrochen von Übergangsgeld während einer stationären Rehabilitationsmaßnahme im April/Mai 2015 bis zum 9. September 2015 Arbeitslosengeld I nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III, Bescheid vom 25. Juni 2015). In einer seitens der Agentur für Arbeit Osnabrück veranlassten sozialmedizinischen Stellungnahme vom 12. November 2014 hatte die Ärztin Dr. L. zuvor festgestellt, dass der Antragsteller für voraussichtlich mindestens sechs Monate (aber nicht auf Dauer) in der Erwerbsfähigkeit gemindert sei.
Den vom Antragsteller am 7. September 2015 gestellten Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld II lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 14. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 2015 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuc...