Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Prüfung der Wirtschaftlichkeit. Überschreitung der Richtgrößen für Arzneimittel. Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen einen Richtgrößenregress. Begründung des Rückforderungsbescheides. Begriff, Geltendmachung und Anerkennung von Praxisbesonderheiten. Beurteilungsspielraum der Prüfgremien
Orientierungssatz
1. Bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Prüfungsausschuss für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung gegen den Vertragsarzt geltend gemachten Regressforderung, so ist die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen Richtgrößenregress durch einstweiligen Rechtsschutz anzuordnen.
2. Ein Rückforderungsbescheid, dem die Nichtberücksichtigung einer vom Vertragsarzt geltend gemachten Praxisbesonderheit zugrunde gelegt wird, muss vom Prüfungsausschuss so verdeutlicht und begründet werden, dass die Anwendung der gebotenen Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar ist (vgl BSG vom 30.11.1994 - 6 RKa 16/93 = SozR 3-2500 § 106 Nr 25).
3. Praxisbesonderheiten sind aus der Zusammensetzung der Patienten eines Vertragsarztes herrührende Umstände, die sich auf das Behandlungsverhalten des Arztes auswirken und in der Praxis der Vergleichsgruppe nicht in entsprechender Weise anzutreffen sind (vgl BSG vom 21.6.1995 - 6 RKa 35/94 = SozR 3-2500 § 106 Nr 27 und vom 23.2.2005 - B 6 KA 79/03 R).
4. Zur Geltendmachung einer Praxisbesonderheit ist der substantiierte Vortrag des Arztes dazu erforderlich, warum sein Behandlungs- oder Verordnungsverhalten von dem der Vergleichsgruppe abweicht (vgl BSG vom 12.10.1994 - 6 RKa 6/93, vom 21.6.1995 - 6 RKa 35/94 aaO und vom 10.5.2000 - B 6 KA 25/99 R = SozR 3-2500 § 106 Nr 49). Ein pauschaler Hinweis auf die Behandlung schwerer oder kostenaufwändiger Fälle reicht nicht aus (vgl BSG vom 22.5.1984 - 6 RKa 21/82 = SozR 2200 § 368n Nr 31, vom 11.6.1986 - 6 RKa 2/85 = SozR 2200 § 368n Nr 44 und vom 23.3.2011 - B 6 KA 9/10 R = SozR 4-2500 § 84 Nr 2).
5. Legt ein Vertragsarzt dar, 70 % bis 80 % seiner Praxisklientel behandele er wegen Sportverletzungen, so ist ein solchermaßen belegter Vortrag hinreichend plausibel, um zumindest die gute Möglichkeit einer Praxisbesonderheit darzulegen.
6. Hat der Prüfungsausschuss eine bestimmte Behandlung als Praxisbesonderheit anerkannt, so muss er den hierdurch gerechtfertigten Verordnungsumfang quantifizieren, um zu prüfen, ob überhaupt eine Überschreitung des nach § 106 Abs 5 a SGB 5 zu berücksichtigenden Richtgrößenvolumens vorliegt und wie hoch der ggf festzusetzende Regressbetrag ist.
7. Setzt der Prüfungs- bzw Beschwerdeausschuss den von ihm angenommenen auf die Praxisbesonderheit entfallenden Verordnungsaufwand undifferenziert in einer Vielzahl von Fällen, und zwar unabhängig von der Fachgruppe und der jeweils geltend gemachten Besonderheit ein, so handelt er rechtswidrig, weil damit keine einzelfallbezogene Schätzung vorgenommen wird.
8. Der Beurteilungsspielraum gestattet es den Prüfgremien nicht, eine sachgerechte Aufbereitung des Sach- und Streitstandes und konkrete Ermittlungen durch allgemeine Erwägungen zu ersetzen. Erforderlich ist eine nachvollziehbare einzelfallbezogene Quantifizierung der jeweiligen Praxisbesonderheit (vgl BSG vom 18.5.1983 - 6 RKa 18/80 = BSGE 55, 110 = SozR 2200 § 368n Nr 27 und vom 22.5.1984 - 6 RKa 21/82 aaO).
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 23. Februar 2011 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen haben.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.383,39 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Streitig ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen einen Richtgrößenregress.
Der Antragsteller (Ast) nahm im Jahr 2003 als Facharzt für Chirurgie an der vertragsärztlichen Versorgung in Hannover teil.
Mit Schreiben vom 4. Juni 2007 teilte ihm der Prüfungsausschuss Niedersachsen für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung mit, dass er im Jahr 2003 die Richtgrößen für Arzneimittel mit 141,44 % um mehr als 25 % überschritten habe und daher gem § 10 Abs 3 der Richtgrößenvereinbarung (RGV) von Amts wegen eine Richtgrößenprüfung einzuleiten sei; der vorläufig errechnete Nettoregress betrage 28.848,76 Euro.
Der Ast machte demgegenüber geltend, er habe Präparate der Ausnahmeliste in Anl 2 zur RGV verordnet. Außerdem berief er sich auf die hohen Verordnungskosten einzelner Präparate, auf kostenintensive Patienten und auf teure Verbände. Der Prüfungsausschuss Niedersachsen setzte mit Bescheid vom 1. November 2007 gleichwohl einen Regress in Höhe von 28.702,77 Euro fest, wobei er zugunsten des Ast Praxisbesonderheiten in Höhe von 12.185,85 Euro berücksichtigte.
Gegen diese Entscheidung legte der Ast am 7. November 2007 Widerspruch ein, zu dessen Begründung er ua zusätzlich eine Auflistung bisher nicht anerkannter ...