Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Staat. Fortbestehen dieses Schutzes. Mängel der behördlichen Sachverhaltsaufklärung. Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Rückkehr in den schutzgewährenden Staat. Tatbestandswirkung asylrechtlicher und aufenthaltsrechtlicher Entscheidungen. sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Beschwerdeverfahren. Antragsauslegung. Verbot der reformatio in peius
Leitsatz (amtlich)
1. § 1a Abs 4 S 2 AsylbLG erfordert als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dass dem Betroffenen die Rückkehr in das schutzgewährende Land aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen möglich und zumutbar ist.
2. Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 4 S 2 AsylbLG ist danach rechtswidrig, wenn aufgrund der systemischen Mängel der Aufnahmebedingungen in dem schutzgewährenden Land (hier Griechenland) insbesondere sog vulnerablen Personen im Falle ihrer Rückkehr eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung (Art 4 GRC - juris: EUGrdRCh/Art 3 EMRK - juris: MRK) droht.
3. Bei der Prüfung einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG kann eine unterbliebene oder mangelhafte behördliche Sachverhaltsaufklärung, etwa zum Fortbestehen des durch einen Mitgliedstaat der EU oder einen am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat gewährten internationalen Schutzes (§ 1a Abs 4 S 2 AsylbLG), insbesondere im gerichtlichen Eilverfahren nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten des Leistungsträgers nach dem AsylbLG gehen (Fortführung von LSG Celle-Bremen vom 8.4.2014 - L 8 AY 57/13 B ER = Asylmagazin 2014, 177 = juris RdNr 21).
4. Eine nicht bestandskräftige asyl- oder aufenthaltsrechtliche Entscheidung entfaltet für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG keine Tatbestandswirkung (vgl dazu BSG vom 27.2.2019 - B 7 AY 1/17 R = SozR 4-3520 § 1a Nr 3 = juris RdNr 26).
5. Zu dem Grundsatz des "ne ultra petita" (§ 123 SGG) und dem Verbot der "reformatio in peius" im Rechtsmittelverfahren.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 14.5.2019 wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der von den Antragstellern beim Sozialgericht Stade anhängigen Klage (- S 19 AY 24/19 -) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 1.4.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.5.2019 wird angeordnet. Die Anordnung erfolgt betreffend die Klage der Antragstellerin zu 3 mit der Maßgabe, dass ihr aufgrund des Bescheides des Antragsgegners vom 1.3.2019 anstelle des Regelbedarfs nach § 2 AsylbLG i.V.m. § 27a SGB XII Leistungen zur Deckung des notwendigen und des notwendigen persönlichen Bedarfs nach § 3 AsylbLG (zzgl. Leistungen für Unterkunft und Heizung) in monatlicher Höhe von 225,00 € zu gewähren sind.
Die Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I.
Im Streit ist die vorläufige Gewährung höherer Leistungen nach dem AsylbLG für die Zeit ab Mai 2019, insbesondere die Rechtmäßigkeit einer Anspruchseinschränkung wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes durch Griechenland (§ 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG).
Die 1991 geborene Antragstellerin zu 1 ist die alleinerziehende Mutter der 2011 und 2018 geborenen Antragstellerinnen zu 2 und 3. Sie sind syrische Staatsangehörige. Die unmittelbar nach der Einreise nach Deutschland von den Antragstellerinnen zu 1 und 2 gestellten Asylanträge - die Antragstellerin zu 3 ist in Deutschland geboren - wurden durch Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 19.3.2018 als unzulässig abgelehnt, weil ihnen im August 2017 bereits durch Griechenland internationaler Schutz gewährt worden war (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zugleich wurde ihnen eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens gesetzt und eine Abschiebung nach Griechenland angedroht. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG wurden insoweit nicht festgestellt, weil im Falle einer Abschiebung nach Griechenland eine Menschenrechtsverletzung (Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) wegen der Lebensverhältnisse im Aufnahmestaat nicht zu befürchten sei. Auch der Asylantrag der Antragstellerin zu 3 hatte - mit entsprechender Begründung - keinen Erfolg (Bescheid des BAMF vom 29.3.2019). Die Entscheidungen des BAMF sind Gegenstand von beim Verwaltungsgericht (VG) Stade anhängigen Klageverfahren (- 2 A 996/18 - und - 2 A 530/19 -). Die von den Antragstellerinnen gestellten Eilanträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen hatten keinen Erfolg (Beschlüsse des VG vom 8.3.2019 - 2 B 291/19 - und vom 24.4.2019 - 2 B 531/19 -). Das VG führte u.a. zur Begründung aus, die Anträge seien mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig, weil die Antragstellerinnen während der Klageverfahren wegen der vom BAMF gesetzten Ausreisefrist erst nach einem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens nicht abgeschoben werden dürften.
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