Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Operationskosten. Leistungen bei Krankheit. dauerhafte Schmerzen. Erforderlichkeit der Operation. alternative Behandlung mit Schmerzmitteln. sonstige Leistungen. Unerlässlichkeit zur Sicherung der Gesundheit. minderjähriger Leistungsberechtigter
Orientierungssatz
1. Eine Behandlung mit Analgetika ist einer operativen Korrektur der für die Schmerzen ursächlichen Verformungen (hier: der unteren Extremitäten) nur dann vorzuziehen, wenn die ggf nur vorübergehende Schmerzmedikation gegenüber einer Operation mindestens in gleicher Weise geeignet ist, die Schmerzzustände zu behandeln.
2. Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Unerlässlichkeit einer Leistung iS des § 6 Abs 1 S 1 AsylbLG sind - neben den Umständen des Einzelfalles - Kriterien einzubeziehen wie zB die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), das Ausmaß und die Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland.
3. Die Wertung aus § 6 Abs 1 S 1 Alt 3 AsylbLG, wonach sonstige Leistungen gewährt werden können, die zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten sind, und Art 3 der UN-Kinderrechtskonvention (juris: UNKRÜbk), wonach bei allen Regelungen das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist, gebieten bei der Anwendung des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG eine besondere Rechtfertigung, wenn eine nach den hiesigen Lebensverhältnissen medizinisch an sich erforderliche Behandlungsmaßnahme für Kinder bzw minderjährige Grundleistungsberechtigte als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich abgelehnt wird.
Tenor
1. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 26. April 2023 wird zurückgewiesen.
2. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I. Im Streit ist die vorläufige Übernahme von stationären Behandlungskosten (Beinoperation).
Der 2006 geborene Antragsteller ist georgischer Staatsangehörigkeit und leidet seit seiner Geburt an einer hypophosphatämischen Rachitis (Phosphatdiabetes), einer auf einer Genmutation beruhenden chronisch-progressiv verlaufenden Erkrankung mit Kleinwuchs, schweren Knochenwachstumsstörungen, einer Deformation des Brustkorbes sowie einer ausgeprägten mehrdimensionalen Achsenfehlstellung in den Kniegelenken und dauerhaften, u.a. belastungsabhängigen Schmerzen. Er ist zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Seine Eltern reisten mit ihm und seiner jüngeren Schwester im Februar 2022 über Polen auf dem Landweg nach Deutschland ein, um für ihn eine bessere medizinische Versorgung zu erlangen, weil - nach den Angaben seiner Mutter bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) - eine Stabilisierung des Phosphatgehaltes im Blut des Antragstellers in Georgien nicht möglich gewesen sei und deshalb bei einer Operation der deformierten unteren Extremitäten eine Beinamputation gedroht habe. Während des Asylverfahrens wurde die Familie im April 2022 der im Kreisgebiet des Antragsgegners gelegenen Stadt Wolfenbüttel zugewiesen (Bescheid der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen, Braunschweig, vom 14.4.2022). Die von den Familienmitgliedern nach Einreise gestellten Asylanträge lehnte das BAMF als offensichtlich unbegründet ab. Zugleich wurde festgestellt, dass insbesondere für den Antragsteller aus medizinischen Gründen keine Abschiebungsverbote betreffend Georgien vorliegen, weil insoweit keine qualifizierten Atteste vorgelegt worden seien und die bei ihm angeblich vorliegende Erkrankung nicht als ernsthaft bzw. lebensbedrohlich einzustufen sei. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass ihm in seinem Herkunftsland ausreichende medizinische Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (Bescheid des BAMF vom 11.7.2022). Die hiergegen vom Antragsteller (und seinen Familienangehörigen) erhobene Klage ist beim Verwaltungsgericht (VG) Braunschweig noch anhängig (8 A 200/22). Den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes lehnte das VG zunächst ab (Beschluss vom 26.7.2022 - 8 B 201/22); diese Entscheidung wurde jüngst zu Gunsten des Antragstellers geändert, indem die aufschiebende Wirkung der Klage (8 A 200/22) gegen die Abschiebungsandrohung des BAMF vom 11.7.2022 angeordnet wurde (Beschluss des VG vom 23.5.2023), weil nach den derzeitigen medizinischen Erkenntnissen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über das (Nicht-)Vorliegen eines Abschiebungsverbotes betreffend Georgien bestünden.
Da sie ihren Lebensunterhalt nicht mit eigenen Mitteln bestreiten können, beziehen der Antragsteller, seine Eltern und seine Schwester seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet sog. Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, zuletzt bewilligt für Januar bis Juni 2023 durch Bescheid des Antragsgegners vom 22.12.2022. Nach diversen Untersuchungen im Klinikum Braunschweig, in der Orthopädischen Klinik Braunschweig...