Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsgebot. Verpflichtung des Vertragsarztes zur Auswahl des kostengünstigeren Bezugsweges bei mehreren rechtlich zulässigen Bezugswegen. Direktbezug von Blutgerinnungsfaktoren

 

Orientierungssatz

1. Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist vom Vertragsarzt nicht nur bei der Auswahl des Arzneimittels zu beachten, sondern auch bei der Auswahl des Bezugsweges für das betreffende Arzneimittel, sofern es mehrere rechtlich zulässige Bezugswege gibt, namentlich die Möglichkeit des Bezuges über eine Apotheke oder direkt über den Hersteller/Großhändler.

2. Bei Blutgerinnungsfaktoren drängt sich angesichts der exorbitanten Preisunterschiede eine Pflicht zum Direktbezug von pharmazeutischen Unternehmen oder Großhändlern daher geradezu auf.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 17.03.2021; Aktenzeichen B 6 KA 20/20 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 27. April 2016 und der Bescheid des Beklagten vom 18. Oktober 2012 aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, über den von der Klägerin am 30. März 2011 beantragten Regress wegen der Verordnung von Blutgerinnungsfaktoren unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

Der Beklagte und der Beigeladene zu 1. tragen jeweils die Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens zur Hälfte mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen zu 2., die diese selbst trägt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 47.934 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Streitig ist die Festsetzung eines Regresses wegen der Verordnung von Blutgerinnungsfaktoren.

Der Beigeladene zu 1. ist Facharzt für Transfusionsmedizin und Einzelunternehmer des Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) I. in J. Für das MVZ verordnete er im Quartal I/2009 für drei der bei der klagenden Krankenkasse (KK) versicherten Mitglieder Blutgerinnungsfaktoren (Kogenate® , Haemate® Wilate® ) iHv 243.884,07 Euro (brutto).

Im März 2011 beantragte die Klägerin bei der Prüfungsstelle Niedersachsen für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung die Festsetzung eines sonstigen Schadens. Bei den verordneten Blutgerinnungsfaktoren sei die in § 47 Abs 1 S 1 Nr 2a des Arzneimittelgesetzes (AMG) vorgesehene Möglichkeit des Direktbezugs - vom pharmazeutischen Unternehmer/Großhändler unter Umgehung der Apotheken direkt an den Arzt - nicht genutzt worden. Dadurch seien der KK zusätzliche Kosten iHv insgesamt 47.934,10 Euro entstanden. Dem trat der Beigeladene zu 1. entgegen: Nach dem Gesetzeswortlaut sei ein Direktbezug von Arzneimitteln nur möglich, wenn es sich dabei „(…) um Gerinnungsfaktorenzubereitungen (…) im Rahmen der ärztlich kontrollierten Selbstbehandlung von Blutern (…)“ handele. Die drei Mitglieder der KK seien aber weder Bluter noch habe eine ärztlich kontrollierte Selbstbehandlung stattgefunden. Außerdem sei die (Direkt-)Abgabe von Blutgerinnungsfaktoren an Patienten personell, strukturell und finanziell extrem aufwendig. Verhandlungen über diesen Umstand verweigere die Klägerin seit Jahren; die vorliegend durch den Bezug der Arzneimittel über eine Apotheke entstandenen Mehrkosten habe die KK daher selbst zu verantworten.

Im Anschluss setzte die Prüfungsstelle gegenüber dem MVZ einen Regress über 47.934,10 Euro fest (Bescheid vom 9. Februar 2012). In dem sich daran anschließenden Widerspruchsverfahren hob der beklagte Beschwerdeausschuss den Bescheid der Prüfungsstelle aber wieder auf. Therapeutisch könnten die verordneten Arzneimittel nur unter der Aufsicht eines in der Hämophilie-Behandlung erfahrenen Arztes eingesetzt werden. Dementsprechend habe der Beigeladene zu 1. die Präparate auch nicht zur Heimselbstbehandlung den Patienten überlassen, sondern in der Praxis des MVZ verabreicht. Die Voraussetzungen für einen Direktbezug nach § 47 Abs 1 S 1 Nr 2a AMG lägen somit nicht vor (Bescheid vom 18. Oktober 2012).

Die Klägerin hat am 16. November 2012 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben und sich dort zur Begründung zunächst auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. Mai 2015 (Az: B 6 KA 18/14 R) gestützt, wonach die Verordnung von Blutgerinnungsfaktoren über die Apotheke anstelle des Direktbezugs über den Hersteller/Großhändler gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot aus § 12 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) verstoße. Dabei stelle die in § 47 Abs 1 S 2 Nr 2a AMG darüber hinaus geregelte Berechtigung des Arztes, entsprechende Arzneimittel im Rahmen einer kontrollierten Selbstbehandlung an den Patienten abgeben zu dürfen, keine Voraussetzung für die Berechtigung bzw Verpflichtung zum Direktbezug der Präparate dar. Aber selbst wenn man zugunsten des Beklagten davon ausginge, dass der Direktbezug von Blutgerinnungsfaktoren eine Heimselbstbehandlung der Patienten voraussetze, sei der Bescheid vom 18. Oktober 2012 rechtswidrig. Der Beklagte habe vorliegend nämlich unter Verstoß gegen die Amtsermittlungspflichten aus § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbu...

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