Entscheidungsstichwort (Thema)
Schulbedarfspauschale. Keine Lernmittelfreiheit. Verantwortung des Schulträgers. Evidente Bedarfsunterdeckung. Freiwillige Unterstützung durch Private. Existenzminimum. Einsparmöglichkeiten. Bagatellgrenze. Planwidrige Regelungslücke. Vergleichbare Interessenlage
Leitsatz (amtlich)
1. Anschaffungskosten für Schulbücher sind nicht von der Schulbedarfspauschale des § 28 Abs 3 SGB II erfasst sondern bei der Ermittlung des Regelbedarfs berücksichtigt worden (in der Position "Bücher und Broschüren" der EVS 2008/2013, vgl § 6 RBEG).
2. Sofern die Anschaffungskosten für Schulbücher (hier: notwendige Schulbücher im Wert von 214,40 € für die 11. Klasse eines Gymnasiums in Niedersachen) nicht anderweitig übernommen werden (zB im Wege der Lernmittelfreiheit), deckt der Regelbedarf diese Kosten der Höhe nach evident nicht ab.
3. Kosten für Schulbücher, soweit sie nicht tatsächlich durch den Schulträger oder andere staatliche Stellen übernommen werden, sind ein durch Leistungen nach dem SGB II sicherzustellender Bedarf, weil der Bundesgesetzgeber mit dem SGB II das gesamte menschenwürdige Existenzminimum einschließlich der Kosten des Schulbesuchs sicherstellen muss (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12, RdNr 181f, 197; entgegen BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 12/13 R = SozR 4-4200 § 28 Nr 8, RdNr 27).
4. Schulbuchkosten sind zwar ein besonderer, jedoch kein laufender Bedarf im Sinne des § 21 Abs 6 SGB II (vgl BSG vom 19.8.2010 - B 14 AS 47/09 R = SozR 4-3500 § 73 Nr 2, RdNr 16).
5. Es handelt sich um eine planwidrige Regelungslücke, dass für durch Lernmittelfreiheit nicht abgedeckte Schulbuchkosten im Gesamtgefüge des SGB II keine auskömmlichen Leistungen vorgesehen sind. Diese planwidrige Regelungslücke ist durch eine analoge Anwendung des § 21 Abs 6 SGB II zu schließen, soweit der Bedarf im Einzelfall unabweisbar ist.
Normenkette
SGB II § 21 Abs. 6, § 24 Abs. 1, § 28 Abs. 3, § 7 Abs. 1, § 20 Abs. 2, § 23 Nr. 1; SGB XII § 73; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 4. September 2015 wie folgt geändert:
Der Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. März 2014 wird geändert. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin unter teilweiser Änderung des Bewilligungsbescheides vom 18. April 2013 sowie der insoweit ergangenen weiteren Bescheide für den Monat September 2013 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 202,90 Euro zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat von den notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Instanzen sowie von ihren notwendigen Kosten des Widerspruchsverfahrens jeweils 95 v.H. zu tragen.
Für den Beklagten wird die Revision zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Erstattung der Kosten für Schulbücher in Höhe von 214,40 Euro.
Die am H. geborene Klägerin und ihre Mutter bezogen von dem Beklagten Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende (vgl. für den Zeitraum vom 1. Juni bis zum 30. November 2013: Bewilligungsbescheid vom 18. April 2013, Änderungsbescheid vom 6. August 2013, Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12. September 2013, Änderungsbescheid vom 13. September 2013, Änderungsbescheid vom 1. April 2014 und Widerspruchsbescheid vom 2. April 2014; für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis zum 31. Mai 2014: Bewilligungsbescheid vom 21. November 2013, Änderungsbescheid vom 5. Dezember 2013, Änderungsbescheid vom 27. Januar 2014, Änderungsbescheid vom 13. Februar 2014, Änderungsbescheid vom 19. Februar 2014, Änderungsbescheid vom 1. April 2014, Widerspruchsbescheid vom 2. April 2014; für die Zeit 1. Juni 2014 bis zum 30. November 2014: Bewilligungsbescheid vom 7. Mai 2014 und Änderungsbescheid vom 1. Oktober 2014). In den Monaten Juli, Oktober und November 2013 erhielt nur die Mutter der Klägerin SGB II-Leistungen, da der grundsicherungsrechtliche Bedarf der Klägerin in diesen Monaten durch Kindergeld und Unterhalt gedeckt war. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 23. August 2013 zum 1. August 2013 Leistungen für Bildung und Teilhabe “für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf„ i.H.v. 70,-- Euro und mit Bescheid vom 21. November 2013 derartige Leistungen i.H.v. 30,-- Euro zum 1. Februar 2014.
Die Klägerin besuchte im Schuljahr 2013/2014 die 11. Klasse des Gymnasiums I., inzwischen hat sie das Abitur erworben und studiert. Am 14. Oktober 2013 beantragte sie die Übernahme der Kosten für die in den Monaten September und November 2013 erfolgte Beschaffung von 11 Schulbüchern i.H.v. insgesamt 214,40 Euro, da ab der 11. Klasse in der Oberstufe beim Gymnasium I. eine Ausleihe von Schulbüchern nicht mehr möglich sei und diese gekauft werden müssten. Eine Auflistung der Bücher sowie Rechnungen und Quittu...