Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Nachteilsausgleich aG. Einschränkung der Gehfähigkeit. Prüfung der zumutbaren Wegstrecke. Prüfungskriterien
Leitsatz (amtlich)
1. Beim Nachteilsausgleich aG ist für eine Gleichstellung nach Abschnitt II Nr 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr 11 StVO erforderlich, dass der Schwerbehinderte auch unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kfz nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung gehen kann. Der Betroffene muss in seiner Gehfähigkeit so stark eingeschränkt sein, dass die Zurücklegung längerer Wegstrecken zu Fuß unzumutbar ist. Er muss jedoch nicht - wie etwa ein Querschnittsgelähmter - nahezu unfähig sein, sich fortzubewegen (Anschluss an BSG vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R = BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1).
2. Auch eine restriktive Auslegung der rechtlichen Vorgaben des Nachteilsausgleichs aG befreit nicht davon, im Rahmen einer umfassenden Einzelfallprüfung Zumutbarkeitskriterien zu prüfen.
3. Bei dieser Zumutbarkeitsprüfung ist auch der Gesetzeszweck des SGB 9 zu berücksichtigen (ua Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilnahme des Behinderten am Leben in der Gesellschaft). Gerade bei außergewöhnlich Gehbehinderten bestimmt sich die Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft fast ausschließlich nach der Fähigkeit, Veranstaltungsorte, Geschäfte und sonstige Einrichtungen mittels des eigenen Kraftfahrzeugs zu erreichen.
4. Können mithilfe eines Rollators (nach jeweils kurzen Pausen) wiederholt Wegstrecken von ca 200 Metern ohne wesentliche Schmerzen oder Beschwerden zurückgelegt werden, besteht kein Anspruch auf den Nachteilsausgleich aG.
5. Muss der schwerbehinderte Mensch dagegen bei einer Fortbewegung innerhalb seiner Wohnung bereits Unterarmgehstützen benutzen bzw sich an Einrichtungsgegenständen abstützen und kann er außerhalb der Wohnung nur noch maximal 150 m pro Weg zurücklegen, wobei er infolge Luftnot und Schmerzen jeweils nach maximal 30 Metern eine Pause im Sitzen einlegen muss, und besteht zusätzlich die Gefahr osteoporosebedingter Sinterungsfrakturen, ist der Nachteilsausgleich aG zuzuerkennen.
Nachgehend
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. Februar 2005 wird aufgehoben, der Bescheid des Beklagten vom 17. September 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Januar 2004 wird geändert.
Der Beklagte wird verpflichtet, beim Kläger für die Zeit ab 1. Mai 2004 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches „aG” festzustellen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte erstattet dem Kläger 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches “aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Bei dem 1947 geborenen Kläger war zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 festgestellt (Bescheid vom 10. Januar 2002).
Auf den Antrag vom 23. März 2003 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 17. September 2003 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 8. Januar 2004 einen GdB von 80 ab Antragstellung fest, lehnte dagegen die Zuerkennung des beantragten Nachteilsausgleiches “aG" ab. Die GdB-Feststellung beruhte auf folgenden Gesundheitsstörungen: 1. Chronisch entzündliche Lungenerkrankung (verwaltungsinterner Einzel-GdB: 50), 2. Osteoporose, Wirbelsäulenleiden (verwaltungsinterner Einzel-GdB: 50). Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass der GdB des Klägers allein auf den o.g. Gesundheitsstörungen beruhe. Die darüber hinaus bestehenden degenerativen Gelenkveränderungen (verwaltungsinterner Einzel-GdB: 20) wirkten sich nicht mehr GdB-erhöhend aus. Der Nachteilsausgleich “aG" könne nicht zuerkannt werden, weil trotz erheblicher Gehbehinderung das Gehvermögen nicht auf das Schwerste eingeschränkt sei. Der Kläger könne nach versorgungsärztlicher Beurteilung hinsichtlich seines Gehvermögens nicht einem Doppeloberschenkelamputierten gleichgestellt werden. Auch liege keine dauernde Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades mit einem Einzel-GdB von mindestens 80 vor. Der Vortrag des Klägers, dass er behinderungsbedingt beim Ein- und Aussteigen aus dem PKW die Fahrertür besonders weit öffnen müsse und deshalb auf breite Behindertenparkplätze angewiesen sei, könne nach der Rechtsprechung des BSG die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches “aG" nicht rechtfertigen.
Der Entscheidung des Beklagten lagen die Befundberichte des Internisten Dr. F. vom 24. Juni 2003, des Orthopäden Dipl.-Med. G. vom 21. Juni 2003, des Allgemeinmediziners Dr. H. vom 24. Juli 2003 bzw. ohne Datum (Eingang beim Beklagten am 20. Oktober 2003) sowie die beratungsärztlichen Stellungnahmen der Fachärztin für Innere Medizin und Arbeitsmedizin Dr. I. und des Dr. J. vom 18. August und 6. November 2003 zugrunde.
Mit der am 23. Januar 2004 beim Sozialgericht (SG) Lüneburg erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemach...