Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Gehbehinderung. Anfallsleiden. konkrete Gefahr erst bei mittlerer Anfallshäufigkeit. Herzrhythmusstörungen. Defibrillator-Schockabgabe. Vergleichbarkeit mit Anfallsleiden
Orientierungssatz
1. Für das Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) bei Anfallsleiden genügt es nicht, dass der behinderte Mensch jederzeit mit der Möglichkeit einer gravierenden Einschränkung der Bewegungsfähigkeit durch das Auftreten eines entsprechenden akuten Zustands rechnen muss; vielmehr muss aufgrund einer hohen Anfallsfrequenz die abstrakte Gefahr zu einer konkreten geworden sein.
2. Die medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen G liegen deshalb auch bei Defibrillator-Schockabgaben nicht vor, wenn deren Frequenz nicht zumindest einer mittleren Anfallshäufigkeit iS des Teil B Nr 1 Buchst e der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) entspricht.
3. Hinzu kommt, dass eine Defibrillator-Schockabgabe hinsichtlich des Schweregrads auch nicht mit einem großen cerebralen Krampfanfall bei Epilepsie vergleichbar ist.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 29. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) sowie „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung).
Die D. geborene Klägerin erlitt im Juni 2014 auf dem Weg zur Arbeit einen Autounfall, woraufhin ihr am 23. Juni 2014 ein Kardioverter-Defibrillator implantiert wurde. Mit Bescheid vom 23. Mai 2017 erkannte die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft als Folgen des Arbeitsunfalls die „Notwendigkeit eines Defibrillators und damit einhergehende Durchschlafstörung und Ängste im Rahmen einer leichten phobischen Störung mit psychisch-emotionaler, körperlich-funktioneller und sozial-kommunikativer Störung leichten Grades sowie leichte Funktionseinschränkung der linken Schulter-Armregion nach stumpfen Brustkorbtrauma und Herzkontusion“ sowie eine „folgenlos ausgeheilte Lungenkontusion mit kleinem Pneumothorax beidseits“ an. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde mit 50 Prozent festgestellt. Zuvor hatte der Beklagte mit Bescheid vom 2. Mai 2017 bei der Klägerin bereits einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 aufgrund der Unfallfolgen anerkannt.
Am 29. Juni 2017 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ ab dem 25. April 2017. Nach Beiziehung medizinsicher Unterlagen lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 13. November 2017 ab. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der beantragten Merkzeichen „G“ und „B“ lägen nicht vor. Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2018 als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 8. März 2018 Klage beim Sozialgericht Lüneburg erhoben, mit der sie die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ begehrt hat. Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin beigezogen sowie Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für Innere Medizin Dr. E. vom 16. Dezember 2019. Der Sachverständige Dr. F. ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, die Voraus-setzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ lägen bei der Klägerin nicht vor. Das Gehvermögen sowie die Herz-Kreislaufbelastungsfähigkeit der Klägerin
seien gut. Bewusstseinsverluste durch Defibrillatorschockabgaben träten nicht regel-mäßig, sondern durchschnittlich alle zwei bis drei Monate auf und seien daher nicht geeignet, die Zuerkennung der begehrten Merkzeichen zu begründen.
Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 29. Juni 2020 die Klage abgewiesen und sich zur Begründung im Wesentlichen auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. F. gestützt.
Gegen den ihr am 7. Juli 2020 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 6. August 2020 eingelegten Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt. Sie leide unter schweren Herzrhythmusstörungen, die unvorhersehbar jederzeit zu einer Bewusstlosigkeit führen könnten und die Auslösung einer Defibrillatorschockabgabe nach sich zögen. In solchen Fällen sei sie hilflos. Ihr Leiden sei mit einem Anfallsleiden vergleichbar, das die Zuerkennung der beantragten Merkzeichen rechtfertige. Sie sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage, ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Ebenfalls sei es ihr nicht möglich, öffentliche Verkehrs-mittel ohne eine Begleitperson zu benutzen. Die Hilfe einer Begleitperson sei schon deshalb erforderlich, weil im Falle einer Bewusstlosigkeit die Begleitperson dem erforderlichen medizinischen No...