Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung kurzfristig eingehender Schriftsätze im sozialgerichtlichen Verfahren. Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Nichtbeantwortung einer Anfrage des Gerichts durch einen Beteiligten. Antrag nach § 109 SGG. Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben

 

Orientierungssatz

1. Ein Gericht muss kurz vor einer anberaumten Verhandlung eingehende schriftsätzliche Ausführungen der Beteiligten berücksichtigen, soweit diese so rechtzeitig eingehen, dass sie den zur Entscheidung berufenen Richter bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang und Anwendung der gebotenen Sorgfalt auf Seiten des für den Empfang entsprechender Sendungen zuständigen Gerichtspersonals noch rechtzeitig erreichen können (vgl BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 7/99 R = SozR 3-1500 § 62 Nr 20).

2. Zu den Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

3. Es verstößt gegen das Gebot von Treu und Glauben iS der auch im Sozialrecht zu berücksichtigenden Grundsätze des § 242 BGB (hier: in Form eines sog venire contra factum proprium), wenn ein Beteiligter durch die Nichtbeantwortung der seine eigene Sphäre betreffenden gerichtlichen Nachfragen eine weitere Aufklärung des Sachverhalts verweigert, gleichzeitig aber eine Intensivierung der Sachverhaltsaufklärung durch Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens (hier: in Form eines Antrages nach § 109 SGG) fordert (vgl zum Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens unter Berücksichtigung des § 242 BGB auch BSG vom 19.10.2000 - B 10 LW 21/99 R = SozR 3-5868 § 21 Nr 2).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 27.06.2019; Aktenzeichen B 5 R 1/19 B)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der 1964 geborene Kläger begehrt eine Erwerbsminderungsrente.

Der Kläger absolvierte in der früheren DDR eine Ausbildung zum Nachrichtentechniker. Den erlernten Beruf durfte er seinerzeit jedoch nicht ausüben, da er einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Von Mai 1988 bis November 1989 war der Kläger nach einer versuchten sog. Republikflucht in der damaligen DDR inhaftiert.

Mit Bescheid vom 5. Juli 2013 hat das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin dem Kläger nach dem Häftlingshilfegesetz (HHG) i.V.m. mit dem Bundesversorgungsgesetz Versorgungsbezüge nach einem GdS von 30 rückwirkend ab Januar 2012 unter Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach Heranziehung eines Gutachtens der nervenärztlichen Sachverständigen Dr. I. vom 7. Mai 2013 zugesprochen.

Nach der Wende übte der Kläger unterschiedliche berufliche Tätigkeiten, insbesondere als Auslieferungs- und als Taxifahrer, selbständiger und angestellter Fernmeldemonteur und als Telekommunikationselektroniker aus. Zuletzt war er von Februar bis November 2013 in Vollzeit als Haus- und Medientechniker bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Nachfolgend hat der Kläger bis zur Aussteuerung Krankengeld- und Arbeitslosengeld I bezogen. Seit Ende 2016 erhält er nach Aktenlage neben den Versorgungsbezügen nach dem HHG laufend Leistungen nach dem SGB II.

Vom 29. September bis zum 10. November 2009 gewährte die Beklagte dem Kläger eine stationäre Heilbehandlung im J. K. Die Klinikärzte gelangten ausgehend insbesondere von der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zu der Einschätzung, dass die stationäre Behandlung zu einem begrenzt positiven Erfolg geführt habe. Es habe sich eine gewisse emotionale Entlastung und Stabilisierung erreichen lassen. Der Kläger wurde mit einem vollschichtigen Leistungsvermögen und der dringenden Empfehlung zur Fortsetzung der aufgenommenen psychotherapeutischen Behandlung entlassen.

Im Mai 2014 beantragte der Kläger die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte holte ein nervenärztliches Gutachten von Dr. L. vom 24. Juni 2014 ein. Der Gutachter legte dar, dass die Haftzeit vom Kläger als sehr traumatisierend erlebt worden sei. Auf der Basis eines von jeher gestörten Verhältnisses zum Vater habe er die Haftzeit auch als Bestrafung durch den sinnbildlichen Vater Staat erlebt. Eine Aufarbeitung sei diesbezüglich noch nicht gelungen. Die Beeinträchtigungen durch die posttraumatische Belastungsstörung seien jedoch nicht so erheblich, dass dem Kläger eine vollschichtige Teilnahme am Erwerbsleben nicht mehr zugemutet werden könne. Vielmehr könne er insbesondere auch noch als Medien- bzw. Nachrichtentechniker arbeiten. Soweit eine weitere stationäre Heilmaßnahme in Betracht komme, sollte diese in einer auf posttraumatische Belastungsstörungen spezialisierten Einrichtung durchgeführt werden. Der Kläger habe angegeben, dass er an einer solchen weiteren Maßnahme auf jeden Fall teilnehmen wolle.

Nachdem die Beklagte daraufhin den Rentenantrag mit Bescheid vom 11. Juli 2014 abgelehnt hatte, hat sie im Widerspruchsverfahren ein weiteres stationäres Heilverfahren in der Dr. M. in N. bew...

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