Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Mehrbedarfsanspruch. Empfänger von Eingliederungshilfe nach § 54 SGB 12. verfassungskonforme Auslegung. kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 5 SGB 2

 

Leitsatz (amtlich)

§ 21 Abs 4 S 1 SGB 2 ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch Empfänger von Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 12 (Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung) Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen nach § 21 Abs 4 S 1 SGB 2 haben (so zukünftig ausdrücklich § 21 Abs 4 S 1 SGB 2 in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende, wonach mit der Änderung "redaktionelle Versehen berichtigt" werden).

 

Orientierungssatz

Der Besuch eines Realschulkurses einer Therapieschule, für den keine Ausbildungsförderung nach § 2 Abs 1 S 1 Nr 1 BAföG geleistet würde, weil die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 2 Abs 1a BAföG nicht erfüllt sind, ist keine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung iS von § 7 Abs 5 S 1 SGB 2.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. September 2005 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat auch die zweitinstanzlich angefallenen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zahlung eines monatlichen Mehrbedarfs wegen Behinderung zusätzlich zu den ihm gewährten Regelleistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Dabei ist im Wesentlichen streitig, ob es sich bei der vom ihm besuchten Maßnahme um eine solche handelt, für die er Leistungen nach einer der in § 21 Abs 4 Satz 1 SGB II in Bezug genommenen Vorschriften erhält.

Der im April 1978 geborene ledige Kläger hat nach Abschluss der Hauptschule mehrere Berufsausbildungen abgebrochen. Der Arzt für Psychiatrie F. hat im Oktober 2003 psychische und Verhaltensstörungen mit Krankheitswert diagnostiziert. Seit dem 1. August 2003 besucht der Kläger den Realschulkurs der G.-Therapieschule in H.. Der Besuch der Maßnahme wurde und wird vom Sozialhilfeträger durch Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 40 Abs 1 Nr 4 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bzw ab dem 1. Januar 2005 § 54 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) gefördert. Bei G. handelt es sich um eine gemeinnützige Gesellschaft für Sozialtherapie und Pädagogik mbH. G. betreibt ua eine Schule, die Menschen mit Drogenproblemen und Substituierten von 14 bis 40 Jahren einen betreuten Rahmen bietet, um Schulabschlüsse der Sekundarstufe I zu erwerben. Die Schule bietet eine feste Tagesstruktur, es werden vielfältige sozialtherapeutische Betreuungsmaßnahmen und Freizeitmöglichkeiten angeboten. Ziel ist die soziale und berufliche Reintegration von Drogenabhängigen.

Bis zum 31. Dezember 2004 erhielt der Kläger außerdem laufende Leistungen nach dem BSHG unter Berücksichtigung eines Mehrbedarf nach § 23 Abs 3 BSHG für die Kosten des Schulbesuchs in Höhe von 102,66 € monatlich. Auf seinen Antrag vom 27. August 2004 bewilligte die Region H. (insoweit Funktionsvorgängerin der Beklagten) dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar bis zum 30. April 2005 mit Bescheid vom 30. November 2004 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 388,55 € (345,00 € Regelleistungen und 213,55 Leistungen für Unterkunft und Heizung abzgl 170,00 € Unterhaltsleistungen). Der Widerspruch des Klägers, mit dem dieser die Weiterbewilligung des Mehrbedarfs begehrte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2005). Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Mehrbedarfs (nunmehr in § 21 Abs 4 SGB II normiert) seien nicht erfüllt, weil der Kläger keine arbeits- und ausbildungsorientierten Hilfen erhalte. Der Kläger nehme vielmehr an einer ausschließlich schulisch organisierten Maßnahme teil, bei der es sich nicht um eine Maßnahme im Sinne von § 21 Abs 4 SGB II handele.

Hiergegen hat der unter Betreuung stehende Kläger durch seine Betreuerin am 4. März 2005 Klage beim Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Er hat geltend gemacht, dass Inhalt der von ihm besuchten Maßnahmen bei G. neben der Vorbereitung zum Schulabschluss eine soziale und berufliche Integrationsmaßnahme sei, für deren Teilnahme ihm Leistungen nach § 21 Abs 4 SGB II zuständen. Er hat eine Bescheinigung von G. mit einer Konzeptionsbeschreibung der Schule beigefügt.

Mit Urteil vom 13. September 2005 hat das SG den angefochtenen Bescheid geändert, die Beklagte verurteilt, dem Kläger den Mehrbedarf nach § 21 Abs 4 SGB II zu gewähren, und die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Zur Begründung der Entscheidung hat das SG auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 11. Juli 2005 ( - L 7 B 53/05 AS - ) Bezug genommen und ausgeführt, dass der erwerbsfähige behinderte Kläger einen Leistungsanspruch nach § 21 Abs 4 SGB II habe. Zwar seien die Voraussetzungen ausgehend vom Wortlaut nicht erfüllt, die Vorschrift sei jedoch gesetzeserweiternd dahingehend aus...

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