Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Nichtausreise trotz Feststehens eines Ausreisetermins und Ausreisemöglichkeit. Anforderungen an das Feststehen eines Ausreisetermins. Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates der EU. Abweichung vom Dublin-Verfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unter dem Ausreisetermin iS des § 1a Abs 2 S 1 AsylbLG ist dasjenige Datum zu verstehen, zu dem die Ausreise des vollziehbar Ausreisepflichtigen erfolgen soll, wobei unter den Begriff der Ausreise nicht nur die freiwillige, sondern auch diejenige unter Zwang (Abschiebung) fällt.

2. Der Ausreisetermin iS des § 1a Abs 2 S 1 AsylbLG bestimmt sich nach den Vorschriften über die Aufenthaltsbeendigung gemäß §§ 50 ff AufenthG (juris: AufenthG 2004) und damit in der Regel nach dem Ablauf der im asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren vom Bundesamt oder von der Ausländerbehörde festgesetzten Ausreisefrist.

3. Die aus einer unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet folgende sofortige Ausreisepflicht (§§ 50, 58 AufenthG) begründet keinen Ausreisetermin iS des § 1a Abs 2 S 1 AsylbLG.

4. Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 4 S 1 AsylbLG setzt eine abweichende Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats oder Drittstaats aufgrund eines Relokationsbeschlusses der Europäischen Union voraus und ist tatbestandlich nicht bereits dann einschlägig, wenn nach der sog Dublin III-VO (EU) 604/2013 (juris: EUV 604/2013) ein anderer Staat zuständig ist, in dem erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (Fortführung von LSG Celle-Bremen vom 17.8.2017 - L 8 AY 17/17 B ER = Asylmagazin 2017, 417 = juris RdNr 10 mwN).

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 31. Januar 2017 aufgehoben.

Der Bescheid des Beklagten vom 22. März 2016 und die für die Monate April bis Juli 2016 durch Auszahlung der Leistungen erfolgten Bewilligungen nach dem AsylbLG, jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2016, werden geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. März bis 20. Juli 2016 ungekürzte Leistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG zu gewähren und unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen auszuzahlen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG für die Zeit vom 1. März bis 20. Juli 2016.

Der Kläger ist nach eigenen Angaben 1993 geboren und ivorischer Staatsangehöriger. Er wurde erstmals in Italien als Antragsteller auf Internationalen Schutz erkennungsdienstlich erfasst (EURODAC). Nach seiner Einreise nach Deutschland am 23. April 2015 stellte er einen Asylantrag, der durch Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 28. Mai 2015 unter Anordnung der Abschiebung als unzulässig abgelehnt wurde. Eilverfahren und Klage gegen diese Entscheidung hatten keinen Erfolg (Verwaltungsgericht - VG - Stade, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 1 B 1019/16 - und Urteil vom 7. April 2016 - 1 A 1018/16 -). Während des Asylverfahrens war der Kläger der im Kreisgebiet des Beklagten liegenden Stadt Cuxhaven zugewiesen, deren Ausländerbehörde ihm seit dem erfolgslosen Ausgang des gerichtlichen Eilverfahrens im Juli 2015 mit einem Lichtbild versehene Bescheinigungen über die bevorstehende Überstellung nach Italien ausstellte, u.a. unter dem 16. Dezember 2015 mit einer (mehrfach verlängerten) Gültigkeit bis zum 25. Januar 2016. In diesem Zusammenhang teilte die Ausländerbehörde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers - jeweils nach Klärung dessen Reisefähigkeit (Operation nach Leistenbruch) - am 4. November und erneut am 16. Dezember 2015 mit, dass der Kläger im Weiteren vom Landeskriminalamt ohne Ankündigung des konkreten Termins nach Italien überstellt werde. Einen Hinweis auf die Pflicht zur freiwilligen Ausreise allgemein oder konkret bis zu einem bestimmten Datum enthielten die Schreiben nicht. Die Überstellung des Klägers nach Italien fand am 11. Januar 2016 auf dem Luftweg statt.

Nach erneuter Einreise in das Bundesgebiet meldete sich der Kläger am 13. Januar 2016 bei der Landeshauptstadt Hannover als Asylsuchender und stellte am 22. Januar 2016 beim BAMF einen Asylfolgeantrag, der aber wegen des noch beim VG Stade anhängigen Klageverfahrens (- 1 A 1018/16 -) nicht zur Entscheidung angenommen wurde; eine Prüfung des BAMF, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, fand auf diesen Antrag nicht statt. Am 25. Januar 2016 stellte die Ausländerbehörde der Stadt Cuxhaven dem Kläger wieder eine mit einem Lichtbild versehene Bescheinigung aus, nach der er “bis zu einer erneuten Vorgabe des BAMF zur Überstellung nach Italien„ seinen Wohnsitz in der Stadt Cuxhaven zu nehmen habe und sein Aufenthalt auf das Kreisgebiet des Beklagten beschränkt sei. Nach der Verlängerung der Gültigkeit dieser Bescheinigung wurde dem Kläger am 20. Mai 2016 (nahtlos) ein...

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