Entscheidungsstichwort (Thema)

Besuch einer Tagesbildungsstätte für geistig behinderte Menschen als Anrechnungszeit. Befähigung zur Aufnahme einer Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Berufsreife. Erfüllung der Schulpflicht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Besuch einer Tagesbildungsstätte für geistig behinderte Menschen kann jedenfalls dann eine Anrechnungszeit iS von § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 6 (Zeiten einer schulischen Ausbildung) darstellen, wenn der behinderte Mensch dadurch zur Aufnahme einer Tätigkeit in einer beschützenden Einrichtung (Werkstatt für behinderte Menschen) befähigt werden soll. Es kommt nicht darauf an, ob der behinderte Mensch auch zur Aufnahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt qualifiziert wurde oder werden konnte. Bei dieser rechtlichen Wertung ist insbesondere das Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 S 2 GG zu berücksichtigen.

2. Die (nachfolgende) Entscheidung des Schulgesetzgebers, den Besuch einer Tagesbildungsstätte für geistig behinderte Menschen zur Erfüllung der Schulpflicht genügen zu lassen, ist ein weiteres wichtiges Indiz für die rentenrechtliche Bewertung dieser Zeit als Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung.

 

Orientierungssatz

Zur Beurteilung der Berufsreife behinderter Menschen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch um die Anerkennung einer  Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung für den vom Kläger im Zeitraum  vom 1. Januar 1970 bis 28. Februar 1971 absolvierten Besuch einer  Tagesbildungsstätte für geistig behinderte Menschen.

Der 1953 geborene Kläger ist stark geistig behindert und leidet unter  anderem unter einem Anfallsleiden. Er ist als schwerbehinderter Mensch nach  den Bestimmungen des Schwerbehindertenrechts (SchwbG/SGB IX) mit einem Grad  der Behinderung von 100 anerkannt. Darüber hinaus wurden ihm die  Merkzeichen "B", "G", "H" und "RF" zuerkannt. Der Kläger besuchte seit  August 1961 nach Befürwortung durch das Gesundheitsamt der Stadt H.  zunächst eine Kindertagesstätte des Vereins für I. e.V. und in der Zeit vom  1. Januar 1969 bis 28. Februar 1971 eine Tagesbildungsstätte desselben  Trägers. Die Unterrichtung in der Tagesbildungsstätte folgte einem  bestimmten Lehrplan: Je nach den Möglichkeiten des behinderten Menschen  zielte dieser auf das Erlernen elementarer Kulturtechniken, aber auch auf  bestimmte Sachkundebereiche ab. Die Unterrichtung erfolgte in Gruppen an  fünf Tagen in der Woche jeweils bis ca. 15.00 Uhr. In regelmäßigen  Abständen wurden sogenannte "Entwicklungsberichte" erstellt. Zum Ende des  Besuchs der Tagesbildungsstätte wurde ein "Abschlussbericht" angefertigt.  Die Kosten für den Besuch der Kindertages- bzw. der Tagesbildungsstätte  trug der zuständige Sozialhilfeträger. Im Anschluss an den Besuch der  Tagesbildungsstätte wurde der Kläger ab dem 1. März 1971 in den  Arbeitstrainings- und sodann in den Arbeitsbereich der Werkstatt für  Behinderte (WfB) J. der K. übernommen. Für die Tätigkeit in der WfB sind im  Versicherungsverlauf des Klägers seit dem 1. Juli 1975 Pflichtbeiträge  verzeichnet. Seit dem 1. Juli 1995 bezieht er von der Beklagten eine  unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).

Im März 1995 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Klärung seines  Versichertenkontos. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 10. Mai  1995 die bis zum 31. Dezember 1988 vorgemerkten rentenrechtlichen Zeiten  als verbindlich fest. Dabei berücksichtigte sie den Zeitraum vom 1. Januar  1969 bis 28. Februar 1971 nicht, weil diese Zeit nicht als Zeit einer  schulischen Ausbildung angesehen werden könne. Mit seinem Widerspruch  machte der Kläger unter anderem geltend, dass es sich bei der von ihm  besuchten Tagesbildungsstätte um eine von der Schulbehörde anerkannte  Einrichtung handele, mit der geistig behinderte Kinder und Jugendliche ihre  Schulpflicht erfüllen könnten. Der Besuch der Tagesbildungsstätte ersetze  den Besuch der Sonderschule G und sei diesem daher gleichzusetzen.  Tagesbildungsstätten unterlägen auch der staatlichen Schulaufsicht. Daher  sei eine unterschiedliche Berücksichtigung der Zeiten des Besuchs einer  anerkannten Tagesbildungsstätte gegenüber Zeiten in einer staatlichen  Sonderschule G nicht zu rechtfertigen. Die Beklagte holte daraufhin eine  ergänzende Auskunft der Gemeinnützigen Werkstätten L. vom 27. September  1995 ein, deren Gesellschafter u.a. der Träger der vom Kläger besuchten  Tagesbildungsstätte ist. Ferner wurde der Beklagten von dort eine  Stellungnahme der Bezirksregierung M. vom 26. September 1995 übersandt,  nach der der Besuch einer anerkannten Tagesbildungsstätte durch geistig  behinderte Kinder und Jugendliche dem Besuch einer öffentlichen  Sonderschule gleichzusetzen sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. August  1996 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie  u.a. aus, dass der Besuch der Tagesbildungsstätte nicht die vom  Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Kriterien für die Anerkennung einer  Schulausbildung erfülle....

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