Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Anfechtungsklage. Aufhebung eines Kostenbeitragsbescheides nach § 92 Abs 1 S 2 SGB 12. Erforderlichkeit eines Vorverfahrens. Nichtbeteiligung sozial erfahrener Dritter nach § 116 Abs 2 SGB 12. gegen den Leistungsberechtigten selbst gerichteter Kostenbeitragsbescheid als Ablehnung der Sozialhilfe bzw Festsetzung der Höhe nach. keine Unbeachtlichkeit des Fehlers. Nichtausschließbarkeit einer anderen Entscheidung in der Sache
Orientierungssatz
1. Die Nichtbeteiligung sozial erfahrener Personen im Widerspruchsverfahren stellt einen erheblichen Mangel des Vorverfahrens dar, der überdies wegen der Bedeutung der Beratung für die Entscheidungspraxis der Behörden im Allgemeinen nicht der Disposition der unmittelbar Beteiligten überlassen werden kann und mithin von Amts wegen zu berücksichtigen ist (vgl BVerwG vom 2.6.1965 - 5 C 63.64 = BVerwGE 21, 208 = Buchholz 436.0 § 3 BSHG Nr 1 zu § 114 Abs 2 BSHG und BSG vom 23.3.2010 - B 8 SO 17/09 R = BSGE 106, 62 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6).
2. Eine Beteiligung sozial erfahrener Personen ist jedenfalls dann erforderlich, wenn ein Bescheid den Leistungsberechtigten selbst zur Kostentragung heranzieht, wie zB ein Kostenbeitragsbescheid nach § 92 Abs 1 S 2 SGB 12. Ein solcher Bescheid ist einer Ablehnung der Sozialhilfe bzw einer Festsetzung der Höhe nach iS des § 116 Abs 2 SGB 12 gleichzusetzen.
3. Unbeachtlich wäre der Verfahrensfehler nur dann, wenn offensichtlich wäre, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (§ 42 S 1 SGB 10). Die unterbliebene Beteiligung sozial erfahrener Dritter stellt jedoch regelmäßig einen "absoluten Aufhebungsgrund" dar, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei Beteiligung sozial erfahrener Dritter eine andere Entscheidung ergangen wäre.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Februar 2012 geändert.
Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2008 wird aufgehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen eine Entscheidung der Beklagten, nach der er einen Betrag in Höhe von 302,58 € von seinem therapeutischen Entgelt als Kostenbeitrag für die Zeit von Januar 2007 bis März 2008 zu leisten hat. Vorab ist streitig, ob die Widerspruchsentscheidung der Beklagten ordnungsgemäß ergangen ist.
Bei dem 1969 geborenen Kläger besteht eine paranoid-halluzinatorische Psychose. Er bezieht seit Oktober 1997 eine Erwerbsunfähigkeitsrente, die seit 2003 auf unbestimmte Dauer gewährt wird. Vor seiner stationären Aufnahme in der Einrichtung F. GmbH im Jahr 1998 lebte er in G. im örtlichen Zuständigkeitsbereich des damaligen Landkreises Hannover, dessen Rechtsnachfolger die Beklagte ist. Im ersten Halbjahr 2007 betrug die Höhe seiner Rente 402,92 €, ab dem 1. Juli 2007 monatlich 405,08 €. Weitere Einkünfte mit Ausnahme des hier streitigen therapeutischen Entgelts hat der Kläger nicht, Vermögen ist nicht vorhanden.
Im Anschluss an frühere Kostenanerkenntnisse gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 22. Februar 2007 ab dem 1. Januar 2007 bis zunächst längstens 31. Dezember 2008 für den Aufenthalt in der stationären Einrichtung Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß §§ 35 ff. SGB XII und Eingliederungshilfe. Weiter heißt es in dem Bescheid: “Über die Höhe des zu leistenden Kostenbeitrages (§ 92 Abs. 1 SGB XII) erhalten Sie ggf. einen gesonderten Bescheid„. Mit Bescheid vom gleichen Tag bewilligte die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2007 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII in Höhe von 571,00 € monatlich. Weiter heißt es in dem an den Betreuer des Klägers gerichteten Bescheid wörtlich:
„Die vorliegende Behinderung erfordert Leistungen in einer stationären Einrichtung für behinderte Menschen, die von mir erbracht werden.
Ich bin deshalb gemäß § 92 Abs. 1 SGB XII verpflichtet, der von Ihnen betreuten Person auch dann die Leistung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im vollen Umfang zu erbringen, soweit die von Ihnen betreute Person den Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen kann.
In Höhe dieses Teils hat die von Ihnen betreute Person zu den Kosten der erbrachten Grundsicherungsleistungen beizutragen.
Über die Höhe des Kostenbeitrags erhalten Sie ggf. einen weiteren Bescheid. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn von hier Einkommen (z. B. Rente) nicht vereinnahmt wird.„
Ein entsprechender Bescheid erging am 21. Januar 2008 für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis 31. Dezember 2008 mit einem monatlichen Zahlbetrag in Höhe von 573,00 €.
Mit Schreiben vom 25. April 2008 übersandte das F. GmbH der Beklagten eine Aufstellung von therapeutischen Zuwendungen für Bewohner und Bewohnerinnen der Einrichtung, in der u. a. der Kläger aufgeführt ist. Dieser erhielt jedenfalls von Januar bis Dezember 2007 sowie im ersten Quartal 2008...