Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der dienstlichen Äußerung eines vom Prozessbeteiligten abgelehnten Richters
Orientierungssatz
1. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs nach § 60 Abs. 1 SGG ist, dass sich dieses auf die Ablehnung eines bestimmten Richters bezieht. Nicht ablehnbar sind hingegen ein Gericht oder der Senat eines Gerichts.
2. Entscheidend für die Begründetheit eines Ablehnungsgesuchs ist, ob ein Grund vorliegt, der den Antragsteller von seinem Standpunkt aus nach objektiven Maßstäben befürchten lassen könnte, der von ihm abgelehnte Richter werde nicht unparteilich entscheiden.
3. § 44 Abs. 3 ZPO bestimmt, dass sich der abgelehnte Richter dienstlich äußert. Steht der für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch erhebliche Sachverhalt unstreitig fest, bedarf es keiner im Einzelnen begründeten dienstlichen Äußerung.
Tenor
Das gegen den 11. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen gerichtete Ablehnungsgesuch des Antragstellers wird verworfen. Das Gesuch des Antragstellers auf Ablehnung von Richter Dr. S wegen Besorgnis der Befangenheit wird zurückgewiesen.
Gründe
1. Das u.a. gegen den 11. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) gerichtete Ablehnungsgesuch des Antragstellers (AS) ist rechtsmissbräuchlich und als unzulässig zu verwerfen.
Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs ist, dass sich die Ablehnung auf einen bestimmten Richter bezieht; nicht ablehnbar sind hingegen ein Gericht als solches oder - wie hier - mehrere Senate eines Gerichts (ständige Rechtsprechung, z.B. Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 07.11.1973 - VIII ARZ 14/73 -; BGH, Beschluss vom 04.02.2002 - II ARZ 1/01 -; Bundesfinanzhof, Beschluss 17.07.1974 - VIII B 29/74 -; Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen vom 28.01.1989 - St 3/88 -; Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 28.05.2001 - B 14 KG 3/01 B -; LSG NRW, Beschluss vom 28.09.2006 - L 10 AR 120/06 AB -, Beschlüsse des Senats vom 11.09.2008 - L 11 AR 52/08 AB -, vom 20.11.2008 - L 11 AR 72/08 - und vom 01.07.2009 - L 11 AR 77/09 AB -).
Im Übrigen ist dem Vorbringen des AS bereits im Ansatz kein objektiver Befangenheitsgrund zu entnehmen, der AS bezieht in seine bereits mehrfach gegenüber Richter Dr. S erhobenen Vorwürfe lediglich pauschal die Richter des 6., 7. und 11. Senats des LSG NRW mit ein (s. dazu nachfolgend).
2. Das gegen Richter Dr. S gerichtete Befangenheitsgesuch des AS ist nicht begründet.
a) Der Senat ist für die Entscheidung über das vor dem 01.01.2012 gestellte Befangenheitsgesuch des AS weiterhin zuständig, auch wenn durch Art. 8 Ziffer 4 b) des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches und anderer Gesetze vom 22.12.2011 (BGBl. I 3057) § 60 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der bis dahin geltenden Fassung ("Über die Ablehnung entscheidet außer im Falle des § 171 das Landessozialgericht durch Beschluss") mit Wirkung zum 01.01.2012 (Art. 23) aufgehoben worden ist. Da der Gesetzgeber keine Übergangsregelung getroffen hat, ist für die Frage, welche prozessrechtlichen Vorschriften in einer bestimmten Verfahrenslage anzuwenden sind, grundsätzlich auf den "Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts" abzustellen. Dieser besagt, dass eine Änderung des Verfahrensrechts grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten erfasst, es sei denn, dass die weitere Rechtsanwendung mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht vereinbar ist (vgl. etwa Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse vom 12.07.1993 - 1 BvR 1470/82 - und vom 07.07.1992 - 2 BvR 1631/90 -). Ausfluss dieses Rechtsgedankens ist u.a. der Grundsatz der perpetuatio fori, der besagt, dass die Zuständigkeit eines Gerichts, die bei Eintritt der Rechtshängigkeit begründet war, durch spätere Veränderungen der begründenden Umstände, zu denen auch gesetzliche Änderungen gehören, nicht fortfällt; das Gericht bleibt zuständig (vgl. Eschner in Jansen, Sozialgerichtsgesetz, 3. Auflage 2008, § 94 Rdn. 22; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG - Sozialgerichtsgesetz, 9. Aufl. 2008, § 95 Rdn. 9a, jeweils m.w.N.). Zwar werden Ablehnungsgesuche anders als Klagen, für die dieser Rechtsgedanke zuvörderst entwickelt wurde, nicht "rechtshängig" i.S.d. § 94 SGG; die Interessenlage ist aber vergleichbar. Der Grundsatz der perpetuatio fori soll u.a. den Rechtssuchenden vor Verzögerungen bewahren. Eine solche würde indes eintreten, wenn der Senat das Ablehnungsverfahren abgeben und eine erneute Einarbeitung an anderer Stelle erforderlich würde. Dies aber stünde mit dem Gesetzeszweck der Verfahrensbeschleunigung (vgl. Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung in BT-Drs. 17/6764 S. 27 zu Art. 8 Nr. 4 a und b) nicht in Einklang.
b) Ein Richter kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 42 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 60 ...