Entscheidungsstichwort (Thema)

Auferlegung von Begutachtungskosten durch das Sozialgericht gegenüber dem Versicherungsträger bei unterbliebener gebotener Untersuchung im Verwaltungsverfahren

 

Orientierungssatz

1. Das Gericht kann nach § 192 Abs. 4 S. 1 SGG der Behörde die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.

2. In einem Rentenverfahren nach § 43 SGB 6 bestimmen sich Art und Umfang der sozialmedizinischen Abklärung danach, welche Krankheiten oder Behinderungen beim Versicherten erkennbar vorliegen, die sich auf dessen Erwerbsfähigkeit auswirken können.

3. Ist eine erforderliche Begutachtung im Verwaltungsverfahren unterblieben und hat das Gericht dasjenige nachgeholt, was die Behörde versäumt hat, so ist es angemessen, der Behörde die gesamten dadurch entstandenen Kosten aufzuerlegen.

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 1.8.2016 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

 

Gründe

I.

Der 1958 geborene Kläger war seit Januar 2013 in seinem Beruf als Baufacharbeiter im Tiefbau arbeitsunfähig. Auf seinen Antrag von August 2013 bewilligte ihm die Beklagte - wegen der Folgen eines mehrfach operierten Bandscheibenleidens der Lendenwirbelsäule - eine stationäre medizinische Rehabilitation, die vom 22.10. bis 12.11.2013 in der (orthopädischen) Knappschaftsklinik T - Bad T stattfand. Im Entlassungsbericht ist unter "Psychosoziale/Psychosomatische Diagnostik" ausgeführt, der Kläger habe um zwei Beratungsgespräche gebeten, in denen er mitteilte, er sei wegen Ängsten und Schlafstörungen seit fast einem Jahr in psychotherapeutischer Behandlung. Es sei indiziert, diese Behandlung fortzusetzen (Bericht vom 19.11.2013).

Nach späterer Umdeutung des Antrags in einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung schaltete die Beklagte als Gutachter Internisten Dr. S (Zusatzbezeichnung "Sozialmedizin") des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) in N ein. Dieser hielt den Kläger unter Berücksichtigung der im Vordergrund stehenden Lendenwirbelsäulenerkrankung und der internistischen Nebenleiden - mit Einschränkungen - noch für in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten (Gutachten vom 14.1.2014). Die Beklagte lehnte ab, Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren, bewilligte indes Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 14.7.2014).

Im Widerspruchsverfahren befragte die Beklagte nach Hinweis des Klägers, dass auch Leistungseinschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegen, den behandelnden Diplom-Psychologen X aus L. Dieser berichtete über eine regelmäßige Behandlung seit Januar 2013. Die psychischen Beschwerden, insbesondere Ängste und Antriebsstörung, hinderten den Kläger an einer normalen Bewältigung von Aufgaben. Seine Schmerzen hinderten ihn zudem an der Ausführung leichter körperlicher Arbeit über drei und mehr Stunden. Sein Leistungsvermögen sei als erloschen zu betrachten (Behandlungsbericht vom 29.10.2014). Die dazu befragte Ärztin des SMD N, Ärztin für Innere Medizin (Zusatzbezeichnungen "Sozialmedizin" und "Ernährungsmedizin") Dr. H, führte aus, die psychische Störung des Klägers stehe einer körperlich angepassten Tätigkeit von 6 Stunden und mehr arbeitstäglich nicht entgegen. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.3.2015).

Im anschließenden Klageverfahren schaltete das Sozialgericht (SG) als gerichtlichen Sachverständigen den Nervenarzt Dr. Dr. M aus F ein. Der Sachverständige stellt als leistungseinschränkende Erkrankungen seines Fachgebiets eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine rezidivierende depressive Störung, derzeit leichtgradig, und eine Persönlichkeitsakzentuierung fest. Diese führten dazu, dass der Kläger arbeitstäglich zwar noch drei, aber weniger als sechs Stunden für Erwerbsarbeit leistungsfähig sei. Die Beklagte erkannte - nach Einschaltung ihres beratenden Psychiaters L aus N - einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab August 2013 an (gerichtlicher Vergleich vom 30.6.2016).

Das SG hat der Beklagten die Kosten für das Gutachten des Dr. Dr. M in Höhe von EUR 1.738,72 auferlegt, weil sie im Verwaltungsverfahren unterlassen habe, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, obwohl dies erkennbar notwendig gewesen sei (Beschluss vom 1.8.2016, der Beklagten am 9.8.2016 zugestellt).

Mit ihrer Beschwerde vom 29.8.2016 begehrt die Beklagte die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Nach der Sachlage im Verwaltungsverfahren sei ein psychiatrisches Gutachten nicht unerlässlich gewesen. Der Kläger selbst habe keine psychischen Probleme "einer primär-psychiatrischen Erkrankung" angegeben und sei auch nicht in psychiatrischer Behandlung gewesen. Er habe damit selbst seinen psychischen Problemen keine bzw. gerin...

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