Entscheidungsstichwort (Thema)
Unionsbürger. Leistungen der Grundsicherung. Freizügigkeit. Aufenthaltserlaubnis. leistungsberechtigtes Kind
Leitsatz (redaktionell)
1. Werden Leistungen der Grundsicherung von Unionsbürgern begehrt, greift der Leistungsausschluss aus § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II dann nicht ein, wenn die betroffene Person über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder über ein materielles Aufenthaltsrecht nach dem AufenthaltsG verfügt.
2. Gem. § 11 Abs. 14 S. 1 FreizügG/EU findet das Aufenthaltsgesetz auch dann Anwendung, wenn es eine günstige Rechtsstellung vermittelt als das FreizügigG/EU.
3. Nach § 28 Abs. 1 AufenthG kann den Angehörigen eines Deutschen, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.
4. Nach § 28 AufenthG kann ein die Unionsbürgerschaft besitzendes aufenthaltsberechtigtes Kind verlangen, so gestellt zu werden, wie ein deutsches Kind.
5. Die Verweigerung existenzsichernder Leistungen an den nichtehelichen, das Sorgerecht wahrnehmende Elternteil der im Inland leistungsberechtigten Kinder, ist mit dem grundrechtlich statuierten Schutz der Familie aus Art. 6 GG nicht vereinbar. Dieses Ergebnis steht auch in Einklang mit dem europäischen Grundrechtsschutz, insbesondere durch Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 GRCh.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, § 22 Abs. 1; FreizügG/EU § 11 Abs. 14 S. 1, § 2; AufenthG § 28; GG Art. 6; EMRK Art. 8 Abs. 1; GRCh Art. 7
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin zu 1) wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 19.04.2023 über die Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin zu 1) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 03.03.2023 bis zum 30.09.2023 i.H.v. monatlich 580,80 EUR zu zahlen.
Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren L 7 AS 586/23 B ER Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin Y., D., beigeordnet.
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 19.04.2023 über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe geändert. Den Antragstellern wird für das erstinstanzliche Verfahren S 87 AS 571/23 B ER Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin Y., D., beigeordnet.
Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller im erstinstanzlichen Verfahren und im Beschwerdeverfahren L 7 AS 586/23 B ER zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin zu 1) begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege der einstweiligen Anordnung. Die Antragsteller zu 2) bis 4) haben ein einstweiliges Rechtsschutzbegehren mit identischer Zielsetzung zwischenzeitlich zurückgenommen und begehren nur noch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren und für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten.
Die 1981 geborene Antragstellerin zu 1) ist die Mutter des 2017 geborenen Antragstellers zu 2), des 2015 geborenen Antragstellers zu 3) und der 2019 geborenen Antragstellerin zu 4). Der Antragsteller zu 2) leidet an Herzproblemen, der Antragsteller zu 3) an Autismus. Die Antragstellerin zu 1) ist rumänische Staatsangehörige, die Antragsteller zu 2) bis 4) sind italienische Staatsangehörige. Der 1952 geborene Vater der Antragsteller zu 2) bis 4), Herr J. V., ist ebenfalls italienischer Staatsangehöriger. Die Antragstellerin zu 1) und Herr J. V. sind nicht verheiratet. Herr J. V. ist seit 1978 in E. gemeldet und war zwischen dem 04.06.2012 und dem 30.01.2020 selbstständig im Bereich Fliesen- und Plattenbau tätig. Sein Gewerbe meldete er aufgrund gesundheitlicher und wirtschaftlicher Schwierigkeiten ab. Herr J. V. bezieht eine Regelaltersrente i.H.v. aktuell 276,16 EUR monatlich sowie ergänzend Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, zuletzt bewilligt mit Bescheid der Stadt E. vom 23.01.2023 i.H.v. 545,10 EUR monatlich für den Zeitraum von Oktober 2022 bis September 2023. Ausweislich der Bescheinigung der Stadt E. vom 15.02.2023 ist Herr J. V. Inhaber eines Daueraufenthaltsrecht gem. § 4a FreizügG/EU.
Die Antragstellerin zu 1) lebte ursprünglich in E., zog dann nach Rumänien und lebte dort mit den Antragstellern zu 2) bis 4). In Rumänien wurde sie von ihren Eltern unterstützt. Am 06.09.2022 reisten die Antragsteller erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seitdem leben sie zusammen mit Herrn J. V. in E.. Die Unterkunftskosten belaufen sich auf 350 EUR Kaltmiete, 160 EUR Betriebskostenvorauszahlungen und 129 EUR Heizkostenvorauszahlungen monatlich. Mit Schreiben vom 07.11.2022 erklärte die Vermieterin, dass für fünf Monate Mietrückstände i.H.v. insgesamt 2.135,05 EUR bestünden. Die Antragstellerin zu 1) geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Die Antragsteller zu 3) bis 4) besuchen noch nicht die Schule; dem Antragsteller zu 2) ist noch kein Schulplatz zugewiesen worden.
Am 30.11.2022 beantragten die Antragstell...