Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der von einer Rechtsanwaltskanzlei versäumten Verfahrensfrist

 

Orientierungssatz

1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich einer versäumten Verfahrensfrist ist nach § 67 Abs. 1 SGG zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, diese einzuhalten. Maßgeblich ist dasjenige Maß an Sorgfalt, welches einem gewissenhaften Prozessführenden nach den gesamten Umständen entsprechend allgemeiner Verkehrsanschauung zuzumuten ist.

2. Für die Vorwerfbarkeit der Fristversäumnis kommt es auf die persönlichen Verhältnisse, insbesondere den Bildungsgrad und die Rechtserfahrung an, vgl. BSG, Urteil vom 31. März 1993 - 13 RJ 9/92.

3. Das Verschulden einer nicht vertretungsberechtigten Hilfsperson, derer sich der Beteiligte oder sein Prozessbevollmächtigter bei untergeordneten Hilfstätigkeiten bedient, ist dem Säumigen nicht zuzurechnen.

4. Wird der in einer Rechtsanwaltskanzlei ein- und ausgehende Briefverkehr von sorgfältig ausgewählten, langjährig erfahrenen und in ausreichender Frequenz stichprobenartig überwachten Mitarbeitern kontrolliert, so ist ein Organisations-, Auswahl- oder Überwachungsverschulden des bevollmächtigten Rechtsanwalts ausgeschlossen.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin vom 22.7.2013 wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 21.6.2013 geändert und ihr wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

 

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt im Klageverfahren die Aufhebung des Betriebsprüfungsbescheides der Beklagten vom 6.10.2011 in der Gestalt des Bescheides vom 28.6.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2013, mit der diese von ihr Sozialversicherungsbeiträge und Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 121.895,00 EUR nachfordert.

Die Klägerin wandte sich gegen die Nachforderung bereits im Anhörungsverfahren. Hierzu erteilte sie "den Rechtsanwälten der Anwaltssozietät D I (im Folgenden: D) Partnerschaft von Rechtsanwälten und Steuerberatern" - es folgen sämtliche Standorte der Kanzlei - "Insbesondere Dr. L - jedem einzelnen allein - ("Bevollmächtigte") gegenüber der Beklagten schriftliche Vollmacht.

Gegen den Betriebsprüfungsbescheid der Beklagten vom 6.10.2011 legte die Klägerin, vertreten durch D, mit Schriftsatz vom 7.11.2011 Widerspruch ein. Die Beklagte erließ daraufhin am 28.6.2012 einen ändernden Bescheid.

Mit Schreiben vom 19.10.2012 meldete sich im noch laufenden Widerspruchsverfahren gegenüber der Beklagten erstmals die Anwaltssozietät L (nachfolgend: L), der ausweislich des Briefbogens der bislang mit der Angelegenheit betraute Rechtsanwalt Dr. L nunmehr angehörte. Erläuterungen diesbezüglich wurden gegenüber der Beklagten nicht abgegeben, weitere Unterlagen nicht eingereicht.

Die Beklagte wies sodann den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 18.2.2013 als unbegründet zurück, den sie per Einschreiben (RG 20 xxx xxx 9DE 110) am 19.2.2013 (Ab-Vermerk) an die Adresse von D in der C-Straße 00 in E versandte. Das Einschreiben wurde in das von D bei der Deutschen Post AG unterhaltende Postfach mit der Nummer 000 eingelegt.

Mit Postfach-Service-Vertrag vom 14.6.2006 in der Fassung der Verträge vom 14.1.2010 und 10.5.2010 hatte D die Firma B GmbH (nachfolgend: B) u.a. mit der werktäglichen Leerung des Postfachs und Zustellung der gewöhnlichen und eingeschriebenen Briefsendungen zwischen 8:30 und 9:00 Uhr beauftragt. Zur Aufgabenerfüllung setzte B Frau H1 als Subunternehmerin für die Dienstleistung "Postzustellung" ein und wies sie wie alle Mitarbeiter sowie Subunternehmer an, abgeholte Einschreiben taggenau dem Empfänger auszuhändigen.

Frau H1 holte den Widerspruchsbescheid am 22.2.2013 aus dem Postfach bei der Deutschen Post AG ab. Im Rahmen der Empfangsbestätigung der Post unterzeichnete Frau H1, die Sendung am Freitag, dem 22.2.2013, erhalten zu haben. Am Montag, dem 25.2.2013, lieferte sie das Einschreiben bei D aus.

Am 25.3.2013 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund Klage gegen die genannten Bescheide erhoben und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Am 10.4.2013 hat sie zudem beantragt, ihr gegen die Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren. Der Widerspruchsbescheid sei ausweislich des Posteingangsstempels dem Bevollmächtigten der Klägerin erst am 26.2.2013 zugestellt worden. Die Postzustellung habe sich aufgrund nicht mehr nachvollziehbarer Gründe verzögert. Der Widerspruchsbescheid sei von der Beklagten offensichtlich noch an die alte Kanzleianschrift des Bevollmächtigten in E gesandt worden, obwohl die neue Kanzleianschrift der Beklagten bereits bekannt gewesen sei. Sämtliche noch an die alte Kanzleianschrift gerichtete Post werde regelmäßig unverzüglich, sei es durch Boten, sei es persönlich abgeholt. Hierdurch könne es zu Verzögerungen von maximal einem Arbeitstag kommen. Bei Fristsachen erfolge regelmäßig durch di...

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