Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz gegen einen Beitragsbescheid
Orientierungssatz
1. Bei Beitragsbescheiden der Versicherungsträger wird das Vollzugsrisiko nach § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG grundsätzlich auf den Adressaten verlagert. Infolgedessen begründen nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen.
2. Hat ein Arbeitgeber die Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt und kann deshalb die Beitragspflicht oder -höhe nicht festgestellt werden, so kann der prüfende Rentenversicherungsträger die Höhe der Arbeitsentgelte schätzen, wenn er diese nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand ermitteln kann. Ob ein Summenbescheid verhältnismäßig ist, kann im gerichtlichen Verfahren voll überprüft werden.
3. Bestehen im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung gravierende Anhaltspunkte dafür, dass die vom Arbeitgeber geführten Lohnunterlagen unvollständig sind, so spricht dies für die Zulässigkeit der Schätzung nach § 28 f Abs. 2 SGB 4, mit der Folge, dass einstweiliger Rechtsschutz gegen die Vollstreckung aus dem ergangenen Beitragsbescheid grundsätzlich zu versagen ist.
4. Weist die vom Versicherungsträger durchgeführte Schätzung Mängel auf, weil sie von nicht nachvollziehbaren Erwägungen ausgeht, so kann das Gericht im einstweiligen Rechtsschutz die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gegen den ergangenen Beitragsbescheid anordnen, soweit dieser eine bestimmte Gesamtforderung einschließlich Säumniszuschlägen übersteigt.
5. Allein die mit der Zahlung einer Beitragsforderung für den Arbeitgeber verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen führen nicht zur Annahme einer unbilligen Härte. Eine solche ist nur dann zu bejahen, wenn es dem Beitragsschuldner gelingt darzustellen, dass das Betreiben der Forderung aktuell die Insolvenz oder die Zerschlagung des Geschäftsbetriebes und damit den Entzug seiner Lebensgrundlage zur Folge hätte, die Durchsetzbarkeit der Forderung bei einem Abwarten der Hauptsache aber zumindest nicht weiter gefährdet wäre als zurzeit.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 22.2.2011 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 12.8.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2009 wird angeordnet, soweit dieser Bescheid eine Gesamtforderung von 19.000 Euro einschließlich Säumniszuschlägen übersteigt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen trägt der Antragsteller drei Viertel, die Antragsgegnerin ein Viertel.
Der Streitwert wird für das gesamte Verfahren auf 6.307,55 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage vom 16.12.2009 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12.8.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2009, mit dem diese ihn auf Zahlung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für die Zeit vom 1.12.2004 bis zum 28.2.2007 i.H.v. 25.230,18 EUR in Anspruch nimmt. In dem Betrag sind Säumniszuschläge i.H.v. 5.114,00 EUR enthalten.
Der Antragsteller betrieb im Streitzeitraum das Schnellrestaurant "N" in N. Er beschäftigte hierbei eine Anzahl von Arbeitnehmern, die ihrem Namen und ihrer Anschrift nach nicht ermittelt werden konnten, da der Antragsteller keine aussagekräftigen Lohnunterlagen führte. Das Hauptzollamt (HZA) vernahm die Zeugin X, die angab, sie habe im Jahr 2005 vier Monate lang an jeweils zwei bis drei Tagen in der Woche von 17.00 Uhr bis 22.30 Uhr im Service gearbeitet. Außer ihr seien zwei weitere Kräfte in der Küche tätig gewesen, unter ihnen regelmäßig der Antragsteller. Sie habe die ersten zwei Wochen 3,50 Euro, danach 4,00 Euro bar pro Stunde bekommen. Sie vermute, dass den Köchen mehr gezahlt worden sei. Auf der Grundlage dieser Aussage nahm das HZA an, dass jeweils drei Arbeitskräfte im Restaurant tätig gewesen seien. Ausgehend von den Öffnungszeiten des Restaurants, den vom Antragsteller erstatteten Meldungen zur Sozialversicherung und einem angenommenen eigenen Arbeitsanteil von 3.370 Arbeitsstunden im Jahr (337 Tage à 10 Stunden) schätzte das HZA für den Streitzeitraum nicht zur Sozialversicherung gemeldete 12.204 sog. "Fehlstunden". Da der Antragsteller gegenüber der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten (BGN) für das Jahr 2006 ein nachweispflichtiges Arbeitsentgelt von 10.464,00 Euro für 1.308 geleistete Gesamtarbeitsstunden angegeben hatte, ging das HZA von einem Stundenlohn von 8,00 Euro für die Jahre 2006 und 2007 sowie von 7,50 Euro für die Jahre 2004 und 2005 aus. Das Amtsgericht (AG) Münster verurteilte den Antragsteller wegen des Vorenthaltens von Arbeitsentgelt in 27 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen (Urteil v. 18.2.2009, 20 Cs-45 Js 333/08-312/08). Unter Zugrundelegung der täglichen Öffnungszeiten, der Angaben des Antragstellers,...