Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Bei dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 für einen Unionsbürger handelt es sich um eine offene unmittelbare Diskriminierung, weil das entscheidende Unterscheidungskriterium die Staatsangehörigkeit ist. In der EG VO 883/2004 (juris: EGV 883/2004) findet sich keine Regelung, die eine solche unterschiedliche Behandlung zulässt. Mit sekundärem Gemeinschaftsrecht ist es nicht vereinbar, dass ein Unionsbürger, der sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland zulässigerweise aufhält, automatisch von den Leistungen des SGB 2 ausgeschlossen ist.
2. Weil die Beurteilung der entscheidenden Rechtsfrage des Leistungsausschlusses offen ist und diese im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zuverlässig beantwortet werden kann, sind dem hilfebedürftigen Antragsteller im Wege der Folgenabwägung Leistungen des SGB 2 durch einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 20 Abs. 1 S. 1; VO (EG) 883/2004 Art. 4; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, Art. 8 Abs. 4, Art. 14 Abs. 3, 4 Buchst. b, Art. 24 Abs. 1-2; SGG § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.05.2014 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im Beschwerdeverfahren.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Regelbedarfs gemäß § 20 SGB II zu gewähren.
Im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durchzuführenden summarischen Prüfung sieht der Senat in Übereinstimmung mit den zutreffenden und ausführlichen Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung, die er sich nach Prüfung der Sach- und Rechtslage zu eigen macht, einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund als hinreichend glaubhaft gemacht an. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG).
Das Vorbringen des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren rechtfertigt keine andere Beurteilung. Dabei kann im Ergebnis offen bleiben, ob die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorliegen; denn soweit der Anordnungsanspruch selbst nur möglicherweise besteht, ist dieser in der Regel zumindest vorläufig zu befriedigen, wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistung sichert und nicht absehbar ist, dass kurzfristig die notwendige abschließende Klärung hinsichtlich des Vorliegens des Anspruchs herbeigeführt werden kann (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 596/05, juris, Rn 26,29). So liegt der Fall vorliegend, da in Rechtsprechung und Literatur die aufgeworfene, komplexe und schwierige Rechtsfrage äußerst kontrovers diskutiert wird und mangels höchstrichterlicher und verfassungsgerichtlicher Entscheidungen noch offen ist. Eine zuverlässige Beurteilung im Eilverfahren ist daher nicht möglich. Die zu treffende Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Antragsteller aus, da nur so deren soziokulturelles Existenzminimum in der Zeit bis zu einer endgültigen Klärung gesichert werden kann.
Zum einen werden in der Rechtsprechung schon die tatbestandlichen Voraussetzungen der eng auszulegenden Ausschlussnorm als nicht gegeben angesehen, sofern für Antragsteller davon auszugehen ist, dass diese sich nicht nur allein zur Arbeitsplatzsuche in Deutschland aufhalten (vergleiche LSG NRW Urteil vom 10.10.2013, L 19 AS 129/13; kritisch dazu Urteil LSG NRW vom 28.11.2013, L 6 AS 130/13).
Zum anderen wird die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses mit europäischem Sekundärrecht angezweifelt (vergleiche hierzu zusammenfassend Urteil LSG NRW vom 28.11.2013 L 6 AS 130/13 m. vielen Nachweisen, zuletzt auch Beschluss des Senats vom 25.6.2014, L 12 AS 232/14 B ER, siehe auch EuGH Urteil vom 19.9.2013, C 140/12 - Brey, juris). Danach verstößt der Ausschluss gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Bei dem Leistungsausschluss handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, denn das entscheidende Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit. In der VO (EG) 883/2004 selbst findet sich keine (ausdrückliche) Regelung, die eine solche unterschiedliche Behandlung zulässt (siehe auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern VO (EG) 883/2004 Art. 4 VO Rn. 5). Eine den Leistungsausschluss möglicherweise rechtfertigende Einschränkung des Diskriminierungsverbots ergibt sich auch nicht aus Art. 24 Abs. 2 2. Alt. i. V. m. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der RL 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie). Die RL 2004/38 ist auf Unionsbürger neben der VO (EG) 883/2004 anwendbar (siehe EuGH Urteil vom 19.9.2013, C 140/12 - Brey, juris, Rn. 57). Mit sekundärem Gemeinschaftsrecht, so wie es sich aus Art. 24 Abs. 1, 2; 7 Abs. 1 Buchst. b; 8 ...