Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. Arbeitnehmerstatus. Eintritt ins Rentenalter
Orientierungssatz
1. Auf ein materielles Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU 2004 kann sich auch berufen, wer die Altersgrenze nach § 41 Abs 2 SGB 12 erreicht hat.
2. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 4 FreizügG/EU 2004. Eine Altersgrenze, die einen Unionsbürger quasi pauschal als nicht erwerbstätig qualifiziert, sieht dieser gerade nicht vor. Der Eintritt in das Rentenalter führt somit nicht automatisch zum Verlust des Arbeitnehmerstatus.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 15.07.2019 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für das Beschwerdeverfahren. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren ab dem 23.09.2019 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und die Rechtsanwaltssozietät T, E, beigeordnet.
Gründe
Die zulässige, insbesondere fristgemäß eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin vom 18.07.2019 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 15.07.2019, mit der sie sich gegen die im Wege der einstweiligen Anordnung auferlegte Verpflichtung wendet, den Antragstellern ab dem 01.07.2019 bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung vorläufig Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren, ist unbegründet. Das Sozialgericht hat dem Antrag der Antragsteller für den aus dem Tenor ersichtlichen Zeitraum und Umfang zu Recht entsprochen.
1.) a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. BSG, Beschl. v. 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B -, juris Rn. 6). Allerdings ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes - (GG) und Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn - wie hier - die Gewährung existenzsichernder Leistungen im Streit steht. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgen dabei Vorgaben für den Prüfungsmaßstab. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl. BVerfG, Beschl. der 3. Kammer des Ersten Senats v. 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12 -, juris Rn. 10, 12). In Anwendung dieser Maßstäbe haben die Antragsteller ab dem 01.07.2019 sowohl einen Anordnungsanspruch, gerichtet auf Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, als auch einen Anordnungsgrund gegen die Antragsgegnerin aus dem im sozialgerichtlichen Tenor ersichtlichen Zeitraum und Umfang glaubhaft gemacht. Zu Begründung nimmt der Senat nach eigener Würdigung der Sach- und Rechtslage auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Beschluss Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).
b) Das Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin ist im Ergebnis nicht geeignet, eine ihr günstigere Entscheidung zu rechtfertigen. Die im Februar 1952 (Antragstellerin) bzw. Mai 1953 (Antragsteller) geborenen, bulgarischen und miteinander verheirateten Antragsteller sind dem Grunde nach originär leistungsberechtigt nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, weil sie die Altersgrenze des § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht haben, als im Inland lebende Ausländer auch Grundsicherungsleistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen beziehen können (arg. § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII), unstreitig hilfebedürftig (§§ 19 Abs. 2, 41, 82 ff., 90 SGB XII) und insbesondere nicht von Leistungen gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen sind. Bei der Antragst...