Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zur Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Ein polnischer Staatsbürger benötigt zur Aufnahme einer Beschäftigung keine Arbeitserlaubnis-EU oder Arbeitsberechtigung-EU.
2. Der kategorische Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 für uneingeschränkt zum Arbeitsmarkt zugangsberechtigte Unionsbürger begegnet unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken. Nach der Rechtsprechung des EuGH darf eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates erleichtern soll, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 39 EGV nicht ausgenommen werden.
3. Hat der Antragsteller zu Grundsicherungsleistungen durch nachgewiesene Bewerbungen und persönliche Vorsprachen sich um Arbeit bemüht, so reichen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens diese Aspekte aus, um eine tatsächliche Verbindung des Antragstellers zum deutschen Arbeitsmarkt als glaubhaft gemacht anzusehen, vgl. EuGH, Urteil vom 04. Juni 2009 - C - 22/08 und vom BSG, Urteil vom 13. Juli 2012 - B 8 SO 14/09 R.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 29.05.2012 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt T aus H beigeordnet.
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet.
Das Sozialgericht (SG) hat zu Recht den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 374,00 EUR ab dem 08.05.2012 bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch für sechs Monate zu erbringen.
Denn der Antragsteller hat sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund bezüglich des Regelbedarfs hinreichend glaubhaft gemacht.
Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen seit dem 08.05.2012 (Eingang des Antrages auf Erlass der einstweiligen Anordnung beim SG) vor. Nach dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5,237 = NVwZ 2005, Seite 927).
Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind bei dem Antragsteller nach der im einstweiligen Verfahren möglichen summarischen Prüfung gegeben. Er erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nrn. 1- 4 SGB II. Denn er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Er ist auch erwerbsfähig gemäß § 7 Abs.1 Nr. 2 SGB II und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Die Bedürftigkeit des Antragstellers (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) ist nach der hier gebotenen summarischen Prüfung ebenfalls glaubhaft gemacht.
Ob dem Anspruch des Antragstellers der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, von den Leistungen ausgenommen. Zwar sind nach dem Wortlaut dieser Norm die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach summarischer Prüfung erfüllt. Denn das Aufenthaltsrecht, jedenfalls das des Antragstellers, ergibt sich derzeit allein aus dem Zweck der Arbeitsuche.
Unter Berücksichtigung des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II und der nach der Rechtsprechung des BVerfG bei nicht möglicher abschließender Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes...