Entscheidungsstichwort (Thema)

Folgenabwägung bei Bewilligung von Grundsicherungsleistungen an einen Unions-Neubürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Nach § 9 Abs. 3 SGB 2 sind Einkommen und Vermögen von Eltern leistungsberechtigter Kinder, die ihr Kind bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres betreuen, nicht zu berücksichtigen. Möglicherweise berechtigte Zweifel des Grundsicherungsträgers an der Hilfebedürftigkeit der Eltern des leistungsberechtigten Kindes sind damit für den Leistungsanspruch des Kindes irrelevant.

2. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist im gebotenen summarischen Verfahren nicht abschließend zu klären, ob ein rumänischer Staatsangehöriger als Unions-Neubürger vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 erfasst wird.

3. Wegen des existenzsichernden Charakters der Grundsicherungsleistungen des SGB 2 ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt regelmäßig zugunsten des Antragstellers aus. Dem Antragsteller drohen existenzielle Nachteile. Dagegen hat der Grundsicherungsträger nur finanzielle Nachteile zu erwarten, wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren nicht durchdringen sollte. Diesen Umständen ist durch die Begrenzung des Leistungszeitraums Rechnung zu tragen, vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05.

 

Tenor

1) Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 23.01.2013 geändert:

a) Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 01.06.2013 bis zum 31.10.2013 Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der Bestimmungen des SGB II zu bewilligen. Im Übrigen wird die Beschwerde gegen die Ablehnung des Eilantrags zurückgewiesen.

b) Den Antragstellern wird für das Eilverfahren vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, Gelsenkirchen, beigeordnet.

2) Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung der einstweiligen Anordnung Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, Gelsenkirchen, beigeordnet.

3) Der Antragsgegner hat ¾ der Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die am 00.00.1993 geborene Antragstellerin und Beschwerdeführerin zu 1) ist die Mutter des am 00.00.2011 geborenen Antragstellers und Beschwerdeführers zu 2). Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1) ist mit ihren Eltern im September 2009 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie ist im Besitz einer am 10.10.2011 ausgestellten Bescheinigung gem. § 5 FreizügG/EU. Hiernach benötigt sie zur Aufnahme einer unselbständigen arbeitsgenehmigungspflichtigen Erwerbstätigkeit einer Arbeitserlaubnis oder Arbeitsberechtigung-EU. Die Antragsteller leben mit den Eltern der Antragstellerin zu 1) in einem gemeinsamen Haushalt. Die Antragstellerin zu 1) und ihre Eltern mieteten die gemeinsame Wohnung ab 01.11.2012 an, der Mietzins zuzüglich Betriebskosten beträgt 524,30 EUR.

Mit Beschluss vom 28.06.2011 (L 19 AS 317/11 B ER) wies der 19. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen eine Beschwerde der Antragstellerin zu 1) und ihrer Eltern gegen einen Beschluss des SG Gelsenkirchen vom 07.02.2011 (S 31 AS 2678/10 ER) zurück. Mit diesem Beschluss hatte das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Arbeitslosengeld II abgelehnt. Mit (rechtskräftigem) Urteil vom 24.09.2012 (S 10 AS 417/11) wies das SG Gelsenkirchen eine Klage der Eltern und der Antragstellerin zu 1) auf Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 03.11.2010 bis zum 31.05.2011 ab.

Am 12.12.2012 beantragten die Antragsteller Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (einschließlich Unterkunftskosten KdU iHv jeweils 131,01 EUR). Sie gaben an, mit Ausnahme des für den Antragsteller zu 2) gezahlten Kindergeldes iHv 184 EUR monatlich über keinerlei Einkünfte zu verfügen und auch keinerlei Unterstützung durch Verwandte oder Bekannte zu erhalten. Bislang habe die Familie sich durch den Verkauf der Obdachlosenzeitung "fifty-fifty" und das Kindergeld "über Wasser gehalten". Die erste Monatsmiete sei durch den in Frankreich lebenden Bruder der Antragstellerin zu 1) zur Verfügung gestellt worden, weitere Mietzahlungen seien jedoch nicht sichergestellt.

Mit Bescheid vom 21.01.2013 lehnte der Antragsgegner den Antrag gestützt auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab. Den Antragstellern stehe kein Leistungsanspruch zu, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Bescheid vom 12.03.2013 zurück, wogegen die Antragsteller am 21.03.2012 Klage erhoben haben.

Bereits am 19.12.2012 haben die Antragsteller beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen und ihren Krankenversicherungsschutz sicherzustellen. Sie seien hilfebed...

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