Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung des Krankenversicherungsträgers zur Übernahme der Kosten einer Hyperthermie zur Behandlung einer Krebserkrankung durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Die Hyperthermie ist eine neue Behandlungsmethode i. S. des § 135 Abs. 1 SGB 5, die der Gemeinsame Bundesausschuss durch Beschluss vom 14. 5. 2005 von der vertragsärztlichen Versorgung ausgenommen hat.
2. Gleichwohl besteht ein Anspruch auf diese Behandlung bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung, wenn eine anerkannte Behandlungsmethode nicht zur Verfügung steht und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
3. Als Standardbehandlung einer Krebserkrankung kommt die Chemotherapie in Betracht. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Durchführung von Hyperthermie einen Zusatznutzen aufweisen kann.
4. Zumindest im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, das umfangreiche Ermittlungen ausschließt, kann im Wege der Folgenabwägung der Krankenversicherungsträger verpflichtet werden, die Kosten der Hyperthermie bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 08.08.2012 abgeändert und die Antragsgegnerin verpflichtet, die Kosten für die in der Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum Abschluss des beim Sozialgericht Münster unter dem Aktenzeichen S 16 KR 526/12 anhängigen Hauptsacheverfahrens in Verbindung mit der bei der Antragstellerin erbrachten Chemotherapie durchzuführenden lokoregionalen Tiefenhyperthermie zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens und die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe
I.
Bei der 1966 geborenen Antragstellerin wurde im Februar 2011 ein Adenokarzinom festgestellt. Es erfolgte eine Chemotherapie. Im Mai 2012 wurden Tumorrezidive entdeckt; es wurden nachfolgend multiple Tumore u.a. im Ligamentum gastrocolicum, im Bereich des Dünndarmmesos, der Zwerchfelle, der Leberkapsel und der Gallenblase operativ entfernt. Ab Mitte Juni 2012 erfolgt eine weitere Chemotherapie mit Gemcitabine, Carboplatin und Avastin. Die Chemotherapie wird auf Empfehlung des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. L mit einer lokoregionalen Tiefenhyperthermie kombiniert, da diese nach seiner Auffassung "wahrscheinlich die Zystostatika in ihrer Wirkung verstärkt".
Die Antragsgegnerin lehnte die Übernahme der Kosten der Hyperthermiebehandlung im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass diese als neue Behandlungsmethode i.S.d. § 135 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen sei und dass sich auch aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kein Anspruch auf die begehrte Behandlung ergebe. Das dieser Entscheidung folgende Hauptsacheverfahren ist beim Sozialgericht (SG) Münster unter dem Aktenzeichen S 16 KR 526/12 anhängig.
Die Antragstellerin hat am 27.07.2012 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und vorgetragen, sie leide an einer zumindest lebensbedrohlichen Erkrankung, für die als Standbehandlung eine Chemotherapie in Betracht komme. Nicht auszuschließen sei jedoch, dass die ergänzende Durchführung von Hyperthermie einen Zusatznutzen aufweisen könne, auch wenn ein Wirksamkeitsnachweis unter Zugrundelegung evidenzbasierter Medizin noch nicht erbracht sei. Aufgrund im Einzelnen benannter Studien spreche Einiges dafür, dass eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf anzunehmen sei. Ohne eine Kostenübernahme sei sie aufgrund ihrer finanziellen Lage dauerhaft nicht in der Lage, die Hyperthermiebehandlung durchführen zu lassen.
Die Antragstellerin hat beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, für sie - die Antragstellerin - die zukünftig anfallenden Kosten einer Hyperthermiebehandlung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen.
Das SG Münster hat den Antrag mit Beschluss vom 08.08.2012 abgelehnt. Die Hyperthermie sei von der vertragsärztlichen Versorgung ausgenommen. Ein Anspruch ergebe sich auch nicht nach den Grundsätzen des "Off-Label-Use" bzw. unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Anerkannte Behandlung der Erkrankung der Antragstellerin sei die Chemotherapie; es reiche nicht aus, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass die ergänzende Durchführung der Hyperthermie einen Zusatznutzen aufweisen könne.
Mit ihrer Beschwerde vom 20.08.2012 verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter.
II.
Die zulässige Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet. Die Antragstellerin hat gegen die Antragsgegnerin Anspruch auf Gewährung von ambulanter lokoregionaler Tiefenhyperthermie in Verbindung mit der bei ihr durchgeführten Chemotherapie im Wege einstweiliger Anordnung.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) können einstweilig...