Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. begründeter Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem § 86b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG. überwiegendes Aussetzungsinteresse gegenüber sofortigem Vollzugsinteresse. gesetzliche Unfallversicherung. Beitragshaftung gem § 150 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 7 iVm § 28e Abs 3a S 1 Alt 1 SGB 4. offensichtlich rechtswidriger Beitragshaftungsbescheid. Exkulpation gem § 28e Abs 3b S 1, Abs 3f SGB 4 iVm § 150 Abs 3 S 2 SGB 7 aF. Vorlage einer Unbedenklichkeitsbescheinigung gem § 28e Abs 3b S 2 SGB 4. rechtswidrige Festsetzung der Haftungsbetragshöhe. Schätzung gem § 165 Abs 3 SGB 7. erheblich niedrigere baustellenbezogene Beitragsfestsetzung der Berufsgenossenschaft anhand des gem § 165 Abs 2 SGB 7 eingereichten Lohnnachweises des Nachunternehmers. Haftungsumfang eines Generalunternehmers des Baugewerbes hinsichtlich der Erfüllung der Zahlungspflicht des Nachunternehmers. akzessorische Bürgenhaftung

 

Orientierungssatz

1. Zur offensichtlichen materiellen Rechtswidrigkeit eines Beitragshaftungsbescheids gem § 150 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 7 iVm § 28e Abs 3a S 1 Alt 1 SGB 4.

2. Wenn es der zuständige Unfallversicherungsträger trotz offenkundiger Widersprüche zwischen einer durch Schätzung auf der Grundlage von zwei Dritteln der Netto-Auftragssumme ermittelten baustellenbezogenen Haftungssumme und den durch Bescheid gegenüber der Nachunternehmerin festgesetzten Beiträgen bei dem auf der Grundlage von eingereichten Lohnnachweisen gemäß § 165 Abs 2 SGB 7 erlassenen Beitragsbescheid gegenüber der Nachunternehmerin belässt, muss er sich hieran im Rahmen der Schätzung der Haftungssumme nach § 150 Abs 3 iVm § 165 Abs 3 SGB 7 festhalten lassen. Dies folgt aus der gesetzlichen Wertung des § 28e Abs 3a S 1 SGB 4, wonach ein Generalunternehmer des Baugewerbes für die Erfüllung der Zahlungspflicht des Nachunternehmers "wie ein selbstschuldnerischer Bürge" haftet.

3. Dies hat nicht nur zur Folge, dass, wovon auch die Antragsgegnerin ausgeht, die bescheidmäßig zulasten des Nachunternehmers festgesetzte Beitragsschuld die Obergrenze für die Generalunternehmerhaftung bildet. Vielmehr führt der Bestand eines auf den Angaben nach § 165 Abs 2 SGB 7 beruhenden Beitragsbescheids gegen den Nachunternehmer auch dazu, dass der Unfallversicherungsträger im Rahmen der Schätzung einer Haftungssumme nach § 165 Abs 3 SGB 7 zulasten eines Generalunternehmers nicht darauf rekurrieren darf, dass die Beitragsschuld gegen den Nachunternehmer möglicherweise zu gering festgesetzt worden ist. Im Rahmen der akzessorischen Beitragshaftung nach § 150 Abs 3 SGB 7 iVm § 28e Abs 3a bis 3f SGB 4 ist die bescheidmäßig gegenüber dem Nachunternehmer festgesetzte Beitragsforderung vielmehr als zutreffend anzusehen.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts S. vom 20.03.2023 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird endgültig auf 3.125,45 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der beim Sozialgericht S. unter dem Az. S 32 U 539/22 erhobenen Klage der Antragstellerin gegen den Beitragshaftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 01.07.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.12.2022.

Die Antragstellerin beauftragte die W. (im Folgenden: Nachunternehmerin), für die die Antragsgegnerin als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zuständig ist, mit Mauer-, Beton- und Stahlbetonarbeiten für die Errichtung des Rohbaus einer Wohnanlage in S.. Als Baubeginn wurde der 27.02.2017 vereinbart. Die vorläufige Netto-Auftragssumme betrug 1.330.584,37 Euro. Die Nachunternehmerin legte der Antragstellerin während der Ausführung des Auftrags zwei von der Antragsgegnerin ausgestellte Unbedenklichkeitsbescheinigungen vor. In der Bescheinigung vom 17.03.2017, die bis zum 15.07.2017 gültig sein sollte, bescheinigte die Antragsgegnerin, dass die Nachunternehmerin "bis zum heutigen Tag" ihre Zahlungsverpflichtungen zur gesetzlichen Unfallversicherung bezogen auf Arbeitsentgelte i.H.v. 35.000,00 Euro erfüllt habe. In der Bescheinigung vom 27.09.2017, deren Gültigkeit bis zum 15.01.2018 reichte, bestätigte die Antragsgegnerin die Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen zur gesetzlichen Unfallversicherung bezogen auf Arbeitsentgelte i.H.v. 29.760,00 Euro. Nachdem die Nachunternehmerin der Aufforderung der Antragstellerin, eine Schlussrechnung zu erstellen, nicht nachgekommen war, erstellte die Antragstellerin selbst die entsprechende Schlussrechnung und kam auf eine Netto-Summe von 1.022.348,09 Euro und nach Abzug eines Nachlasses i.H.v. 32.291,82 Euro, einer vorläufigen Sicherheit i.H.v. 49.502,81 Euro und einem Abzug u.a für Baustrom und -wasser i.H.v. 9.900,56 Euro auf eine Summe von 930.652,89 Euro. Außerdem machte die Antragstellerin diverse Mängel geltend und stellte der Nachunternehmerin einen Schaden i.H.v. 36.250,00 Euro nebst 15 % Geschäftskosten i.H.v. 5.437,50...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge