Entscheidungsstichwort (Thema)
Interessenabwägung bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen die Aufhebung von Leistungen der Grundsicherung
Orientierungssatz
1. Bei der Entscheidung über die beantragte aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs bzw. einer Anfechtungsklage ist eine umfassende Abwägung des Aufschubinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes vorzunehmen. § 39 Nr. 1 SGB 2 verlagert das Vollzugsrisiko bei einem Rücknahmebescheides auf den Adressaten. Infolgedessen begründen nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen.
2. Nach § 43 SGB 1 ist der Grundsicherungsträger zur Erbringung von vorläufigen Leistungen des SGB 2 verpflichtet, wenn er erstangegangener Leistungsträger ist. Nach den Entscheidungen des BSG vom 3. und 16. 12. 2015 handelt es sich bei der Frage, ob der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 eingreift, um die Eröffnung eines Kompetenzkonflikts. Ist danach entweder der Grundsicherungsträger oder der Sozialhilfeträger zur Leistung verpflichtet, so tritt das öffentliche Interesse an der Rücknahme des Bewilligungsbescheides zurück. Der Leistungsbezieher muss es nicht hinnehmen, dass ihm einmal bewilligte Leistungen wieder entzogen werden.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 09.02.2015 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe
I.
Die 1973 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Im Anschluss an eine vom 20.10.2014 bis zum 15.06.2015 dauernde Beschäftigung bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 03.08.2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 01.07.2015 bis zum 31.01.2016. Auf ihren Weiterbewilligungsantrag vom 04.01.2016 bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 06.01.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 01.02.2016 bis zum 31.01.2017. Mit Bescheid vom 13.01.2016 hob der Antragsgegner den Bescheid vom 06.01.2016 für die Zeit ab dem 01.02.2016 gestützt auf § 45 Abs. 2 SGB X auf. Die Antragstellerin sei als bulgarische Staatsangehörige gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nach Ablauf von sechs Monaten nach Ende der letzten Beschäftigung von Leistungen ausgeschlossen. Hiergegen legte die Antragstellerin am 18.01.2016 Widerspruch ein.
Am 22.01.2016 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Gelsenkirchen (sinngemäß) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs beantragt. Mit Beschluss vom 09.02.2016 hat das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet. Es bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 13.01.2016, da zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine ordnungsgemäße Anhörung der Antragstellerin gem. § 24 SGB X nicht erfolgt sei.
Gegen diese am 10.02.2016 zugestellte Entscheidung hat der Antragsgegner am 18.02.2016 Beschwerde eingelegt. Die unterbliebene Anhörung sei unbeachtlich, da diese gem. § 41 Abs. 2 SGB X bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden könne.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 SGG statthafte und zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 18.01.2016 gegen die Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 06.01.2016 angeordnet.
Der Antrag ist statthaft. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, keine aufschiebende Wirkung.
Der Antrag ist begründet. Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Aufschubinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da § 39 Nr. 1 SGB II das Vollzugsrisiko bei Rücknahmebescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs, hier des Widerspruchs, zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Maßgebend ist, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zei...