Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsgrund. Zumutbarkeit des Abwartens einer Entscheidung in der Hauptsache. Asylbewerberleistungen. Analogleistungen statt Grundleistungen. Anordnungsanspruch. rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer. Kirchenasyl. Umzug während des Kirchenasyls

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Anordnungsgrund bei Leistungen nach § 2 statt §§ 3 ff AsylbLG im Anschluss an BVerfG vom 1.10.2020 - 1 BvR 1106/20 = SAR 2020, 139 = juris RdNr 18.

2. Zur Bedeutung eines sog Kirchenasyls für die Rechtsmissbräuchlichkeit einer Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthalts in Deutschland iS von § 2 Abs 1 AsylbLG.

 

Orientierungssatz

Die Nichtbekanntgabe der aktuellen Anschrift ist - vergleichbar einem Untertauchen - jedenfalls dann typischerweise geeignet, den Aufenthalt im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich zu verlängern, wenn der Ausländerbehörde der Aufenthaltsort des Betroffenen über einen längeren Zeitraum nicht bekannt gegeben wird.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 03.12.2020 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin I, C, bewilligt.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des Eilrechtsschutzes Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle zuerkannter Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.

Der 1988 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsbürger. Im Dezember 2017 reiste er mit weiteren Familienangehörigen nach Deutschland ein. Sein Asylgesuch aus Januar 2018 wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch Bescheid vom 21.03.2018 als unzulässig ab. Zugleich ordnete es die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an, weil dieses Land für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Dagegen erhob der Antragsteller vor dem Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf Klage (8 K 2934/18.A). Ein zugleich angestrengtes Eilverfahren blieb erfolglos (Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf, Beschluss vom 19.07.2018 - 8 L 941/18.A). Im Juni 2018 wurde der Antragsteller der Antragsgegnerin zugewiesen.

Nach Abschluss des Eilverfahrens begaben sich der Antragsteller und einige Mitglieder seiner Familie am 31.08.2018 in das Kirchenasyl der Evangelischen Kirchengemeinde H. Die Gemeinde informierte die Antragsgegnerin und die Ausländerbehörde noch am gleichen Tag über das Kirchenasyl. Zugleich teilte sie mit, dass die Familie im Gebäude der Evangelischen Kirchengemeinde in der L-Straße 00 untergebracht sei. Die für den 15.10.2018 geplante Rückführung des Antragstellers nach Italien wurde daraufhin nicht durchgeführt.

Nachdem die Frist zur Überstellung des Antragstellers nach Italien am 25.01.2019 abgelaufen war, hob das VG Düsseldorf 8 K 2934/18.A den Bescheid des BAMF vom 21.03.2018 mit Urteil vom 15.02.2019 auf. Nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils verließ der Antragsteller am 18.04.2019 das Kirchenasyl, wurde in einer Gemeinschaftsunterkunft der Antragsgegnerin untergebracht und erhielt von dieser - wie schon vor Aufnahme in das Kirchenasyl - laufend Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.

Durch Bescheid vom 08.07.2019 lehnte das BAMF den Asylantrag des Antragstellers aus Januar 2018 ab. Die dagegen erhobene Klage ist beim VG Minden (3 K 2271/19.A) anhängig.

Im Mai/Juni 2019 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle der zuerkannten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG. Durch Bescheid vom 17.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.09.2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Die hiergegen am 01.10.2020 erhobene Klage wird bei dem Sozialgericht Detmold unter dem Aktenzeichen S 8 AY 75/20 geführt.

Am 01.10.2020 hat der Antragsteller vor dem Sozialgericht Detmold ferner um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und vorläufige Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle der zuerkannten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG begehrt. Er halte sich ohne wesentliche Unterbrechung seit 18 Monaten im Bundesgebiet auf und habe seinen Aufenthalt im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich verlängert. Die Inanspruchnahme des Kirchenasyls stelle kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar. Es handele sich insbesondere in den Fällen des "offenen" Kirchenasyls, in denen der Ausländerbehörde der Aufenthaltsort - wie bei ihm - jederzeit bekannt sei, weder um ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebehindernis. Vielmehr verzichte die Ausländerbehörde aus politischen oder humanitären Gründen lediglich faktisch auf Vollzugsmaßnahmen. Es wäre aber widersprüchlich, den Aufenthalt des Antragstellers im Kirchenasyl vorübergehend zu tolerieren, ihm aber andererseits rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen. Abweichend von dem Vortrag der Antragsgegnerin sei er während des Kirchenasyls nicht von der L-Straße 00 in den N-Weg umgezogen. Dies könne der Zeuge L1 bestätigen, der sein Kirchenasyl betreut habe...

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