Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers für körperlich oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche. auch bei zusätzlichem Vorliegen einer seelischen Behinderung. keine Abgrenzung nach dem Schwerpunkt der Behinderung oder der für die Maßnahme der Eingliederungshilfe (hier: Heimunterbringung) ursächlichen Art der Behinderung
Orientierungssatz
1. Folge der sich aus § 10 Abs 4 S 1 SGB 8 ergebenden vorrangigen Zuordnung der Leistungen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gem § 35a SGB 8 zur Kinder- und Jugendhilfe ist, dass der Vorrang der Sozialhilfe für Maßnahmen der Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behinderte junge Menschen nach § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 bestehen bleibt. Dabei handelt es sich nicht um eine Ausnahme vom Grundsatz des § 10 Abs 4 S 1 SGB 8, sondern um eine klarstellende Regelung, da das SGB 8 keine Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, bereit stellt.
2. Auf den Schwerpunkt der Behinderung oder die für die Maßnahme der Eingliederungshilfe (hier: Heimunterbringung) ursächliche Art der Behinderung kommt es bei der Abgrenzung nicht an.
Tenor
Auf die Berufungen des Klägers und der Beigeladenen zu 2) wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 29.09.2010 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die im Fall des Beigeladenen zu 1) in der Zeit vom 23.04.2004 bis 30.07.2010 erbrachten Aufwendungen in Höhe von insgesamt 349.001,65 EUR zu erstatten. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Kostenerstattung für die Aufwendungen im Hilfefall des Beigeladenen zu 1) in Höhe von 349.001,65 EUR. Der Beigeladene zu 1), geboren am 00.00.1989, war am 30.09.1997 durch das Jugendamt des Klägers aus dem elterlichen Haushalt herausgenommen und als Notaufnahme im E-heimes e.V. I (später F GmbH) in einer Jungenwohngruppe untergebracht worden. Die Unterbringung des Beigeladenen zu 1) in der Einrichtung E erfolgte aufgrund desolater Familienverhältnisse (massive Gewaltanwendung durch den Vater, Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch den Vater, der später ärztlicherseits bestätigt wurde) und massiver Verhaltensauffälligkeiten des Beigeladenen zu 1) in der Schule für Körperbehinderte (Gewalttätigkeiten gegen Lehrer und Mitschüler, stark sexualisiertes Verhalten). Auf Empfehlung der Schule war der Beigeladene zu 1) bereits Ende 1996 in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität L vorgestellt worden. In dem dortigen Bericht vom 12.02.1997 sind als Diagnosen eine Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, eine mehrdimensionale Entwicklungsstörung (Sprache, Motorik, Kognitionen), ein Intelligenzniveau im Bereich geistiger Behinderung (IQ-Äquivalent 49 ) und eine hohe psychosoziale Belastung aufgeführt worden. Bei der vorliegenden innerfamiliären Belastung und nicht ausreichender Erziehungskompetenz der Eltern sowie der sicher gegebenen massiven Traumatisierung des Beigeladenen zu 1) sei eine außerhäusliche Unterbringung in einer heilpädagogischen Einrichtung und zusätzliche Förderung in den Bereichen Logopädie und Ergotherapie indiziert. Mit Bescheid vom 15.10.1997 gewährte der Kläger dem Beigeladenen zu 1) Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34, 36 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Im Hilfeplan des E-heimes vom 09.10.1998 wird ausgeführt, Entwicklungstests in der Schule hätten ergeben, dass bei dem Beigeladenen zu 1) keine geistige Behinderung vorliege. Er sei jedoch massiv lernbehindert. Im psychologischen Bericht von Dipl.- Psych. L1 vom 12.11.1998 wurde berichtet, bei dem Beigeladenen zu 1) bestehe eine Lern- und geistige Behinderung im Grenzbereich. Da der Beigeladene zu 1) im Heim durch aggressives und sexualisiertes Verhalten auffiel, wurde er im Evangelischen Krankenhaus E1 -Kinderschutzambulanz- vorgestellt. Im Bericht vom 16.11.1999 sind folgende Diagnosen dargelegt: körperliche Misshandlungen durch den Vater sowie sexuelle Misshandlungen durch den Vater mit der Folge schwerer Traumatisierung. Die Lernbehinderung des Beigeladenen zu 1) bedeute eine lebensalterbezogene Entwicklungsverzögerung, nicht aber eine geistige oder emotionale Einschränkung, die ihn hinderten, Erlebnisse realitätsgerecht wahrzunehmen, einzuordnen und zu bewerten.
Mit gerichtlicher Anordnung vom 14.12.1999 wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht in Bezug auf den Beigeladenen zu 1) auf das Jugendamt des Klägers übertragen. Es wurde eine Kontaktsperre verhängt, der Beigeladene zu 1) konnte nicht mehr zu Besuchen in den elterlichen Haushalt zurückkehren, dies um einer Gefährdung seiner Person durch den Vater vorzubeugen. Der Beigeladene zu 1) wechselte zunächst von der Körperbehindertenschule auf eine Schule für Lernbehinderte, im Jahr 2002 auf eine Schule für Erziehun...