Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahlbarmachung von Rente aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Ghetto Libau -rentenversicherungspflichtiges Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis. Ghettoarbeit. eigener Willensentschluss. Entgeltlichkeit. Gewährung von Lebensmittelcoupons
Orientierungssatz
1. Zur Auslegung des Begriffs "Ghetto" schließt sich der Senat dem Inhalt und der Begründung des Urteils des 13. Senats des LSG Essen vom 15.12.2006 - L 13 RJ 112/04 - an, wonach ein Ghetto eine Stadt, ein Stadtteil oder ein Viertel ist, in dem die jüdische Bevölkerung untergebracht wurde, und zwar im Wege der Absonderung, Konzentration und Internierung. Eine Schließung des Ghettos im Sinne einer Umzäunung oder bewaffneten Bewachung nach dem Vorbild zB des Ghettos Lodz ist dabei nicht erforderlich.
2. Zum Vorliegen von Zeiten einer Beschäftigung in einem Ghetto iS von § 1 Abs 1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) vom 20.6.2002 (BGBl I 2002, 2074) (hier: Beschäftigung in einer Korkenfabrik im Ghetto Libau/Lettland in der Zeit von Juli 1942 bis September 1943).
3. Die Ausgabe von Lebensmittelkarten oder -coupons unter Ghettobedingungen ist als Gewährung von Sachbezügen, nicht als Geldleistung anzusehen.
4. Die Gewährung von Lebensmittelcoupons überschreitet den - versicherungsfreien - Unterhalt iS des § 1227 RVO aF nur dann, wenn die auf den Coupons bezeichneten Lebensmitteln nach Art und Umfang das Maß des persönlichen Bedarfs übersteigen und somit als zur freien Verfügung gewährt angesehen werden können.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10.05.2006 wird zurückgewiesen.
Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Altersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten im Ghetto Libau, Lettland im Zeitraum von Juli 1942 bis September 1943.
Die am 00.00.1930 geborene Klägerin ist jüdischen Glaubens, lebt in Israel und besitzt die israelische Staatsangehörigkeit.
Die Klägerin wurde im Sommer 1942 mit ihrer Familie zwangsweise in das Ghetto Libau gebracht. Während ihres Aufenthaltes im Ghetto Libau arbeitete sie in einer Korkenfabrik.
Der Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Beihilfe nach dem BEG-Schlussgesetz wurde insbesondere wegen Verspätung abgelehnt (Bescheid des Regierungspräsidenten Köln vom 06.07.1971).
Am 15.11.2002 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten. Sie gab an, sie habe im Ghetto Libau von Juni oder Juli 1942 bis September 1943 in einer Korkenfabrik Reinigungsarbeiten an zehn bis zwölf Stunden pro Tag verrichtet. Im September 1943 sei sie in ein Zwangsarbeitslager verlegt worden und dort am 10.03.1945 befreit worden. Hinsichtlich einer gewährten Entlohnung könne sie sich nur an Coupons erinnern. Als Arbeitsnachweis habe sie eine Nummern-Karte besessen, die bei Verlassen des Ghettos ausgegeben und bei Rückkehr wieder abgegeben worden sei.
Die Beklagte zog Unterlagen der Jewish Claims Conference (JCC) bei und wertete die dortigen Angaben der Klägerin aus. Die Klägerin hatte am 29.03.1993 gegenüber der JCC angegeben, sie habe von Sommer 1942 bis September 1943 in einer Korkenfabrik arbeiten müssen, obwohl sie zu der Zeit noch sehr jung gewesen sei.
Die Beklagte wertete ebenfalls die beigezogene Akte des Amtes für Wiedergutmachung der Bezirksregierung Düsseldorf aus. In einer in der dortigen Entschädigungsakte befindlichen Erklärung vom 27.11.1967 hatte die Klägerin angegeben, sie sei im Juni 1942 in das Ghetto Libau zwangseingewiesen und bei Liquidation desselben im September 1943 in das KZ-Lager Kaiserwald, Riga, deportiert worden. In einer weiteren Erklärung vom 22.12.1969 hatte die Klägerin angegeben, dass sie von Juni oder Juli 1941 bis 10.03.1945 in Haft gewesen sei. Sie habe den Judenstern tragen müssen, sei dann ins Ghetto Libau und von dort in das Konzentrationslager Riga-Kaiserwald zwangsüberführt worden. Sie sei dann endlich nach mehreren weiteren Aufenthalten in verschiedenen Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern am 10.03.1945 bei Lauenburg befreit worden. Sie sei mehrere Male während der Verfolgungszeit sehr krank gewesen, habe Bauch- und Fleckentyphus gehabt und verschiedene andere infektiöse Krankheiten. Sie habe die ganze Zeit in Todesangst gelebt und sei zum Zeitpunkt der Befreiung nur mehr ein menschliches Wrack gewesen.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 09.09.2004 ab. Es habe keine sozialversicherungspflichtige Arbeit im Fall der Klägerin gegeben, vielmehr überwögen die Merkmale, die für eine nicht-versicherte Zwangsarbeit sprechen. Da sie noch ein Kind gewesen sei, sei davon auszugehen dass der Zweck ihres Arbeitseinsatzes nicht in der Beschäftigung, sondern im Schutz vor Deportation bestanden habe. Überdies trage die Zuweisung von Arbeitskräften zu Arbeitskommandos außerhalb des Ghettos typische Züge von Zwangsarbeit. D...