Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander. Inanspruchnahme des zuerst angegangenen Leistungsträgers. Sozialhilfe. Vorrang der Eingliederungshilfe vor der Jugendhilfe. Hilfe zur Erziehung. Vollzeitpflege. örtliche und sachliche Zuständigkeit. materielle Ausschlussfrist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Leistungszuständigkeit des Sozialhilfeträgers für Kosten der Betreuung eines geistig und körperlich stark behinderten Kindes mit besonderem behinderungsbedingtem Betreuungsaufwand in einer Pflegefamilie.

2. Zur Auslegung von § 107 SGB 12 (§ 104 BSHG).

3. Folgen einer fehlenden Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs nach § 111 SGB 10 gegenüber dem an sich leistungszuständigen Beigeladenen.

 

Orientierungssatz

1. Bei der Leistung von Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege gem §§ 27 Abs 1, 33 S 1 SGB 8 wird neben der Jugendhilfe auch sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe nach § 39 Abs 1 S 1 bzw § 53 Abs 1 S 1 SGB 12 geleistet.

2. Zur Bestimmung des sachlich und örtlich zuständigen Sozialhilfeträgers gem §§ 99, 100 Abs 1 Nr 1 BSHG bzw § 97 Abs 3 Nr 1 SGB 12.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.10.2008 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens auch für den zweiten Rechtszug.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird für den ersten Rechtszug auf 46.732,12 EUR festgesetzt, für den zweiten Rechtszug auf 169.731,27 EUR.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin als Jugendhilfeträger vom Sozialhilfeträger die Erstattung von Leistungen i.H.v. 46.732,12 EUR verlangen kann, die sie im Zeitraum 15.09.2003 bis 31.01.2005 für den am 25.06.2002 geborenen M (Hilfeempfänger) aufgewandt hat.

Der Hilfeempfänger ist aufgrund einer Zytomegalieinfektion seiner Mutter als extreme Frühgeburt (27. Schwangerschaftswoche) zur Welt gekommen. Seine getrennt voneinander (auch schon vor seiner Geburt) im Gebiet der Klägerin lebenden Eltern sind, auch angesichts eigener intellektueller Einschränkungen, nicht in der Lage, sich hinreichend um ihn zu kümmern.

Nach seiner Geburt in der Frauenklinik des Klinikums E verblieb der Hilfeempfänger zunächst bis zum 16.10.2002 in der dortigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Anschließend war er bis zum 06.03.2003 in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Ev. Krankenhauses C in J.

Das Krankenhaus C teilte der Klägerin unter dem 18.02.2003 mit, beim Hilfeempfänger bestehe eine drohende geistige und körperliche Behinderung bei starker Entwicklungsretardierung aufgrund chronischer Erkrankung und extremer Frühgeburtlichkeit. Selbst normal erziehungsfähige Eltern würden ambulante Hilfe zu seiner Pflege und Förderung benötigen.

Der Bericht des Krankenhauses an den weiterbehandelnden Kinderarzt führt u.a. aus, Eltern und Großeltern seien trotz monatelanger Anleitung durch das Klinikpersonal mit der Versorgung des Hilfeempfängers völlig überfordert; um bleibende Schäden abzuwenden, habe man die Unterbringung in einer Pflegefamilie mit evtl. anfänglicher Begleitung durch ambulante Kinderkrankenpflege empfohlen. Mit der Lösung, ihn in einer Einrichtung für schwerst geistig und körperlich behinderte Kinder und nicht in einer Pflegefamilie unterzubringen, sei die Klinik sehr unzufrieden. Zurzeit sei der Hilfeempfänger weder geistig noch körperlich behindert; er sei deutlich entwicklungsretardiert und dadurch von Behinderung bedroht. Durch Zuwendung, intensive Frühförderung und Krankengymnastik, welche auch - und möglicherweise besser - durch eine geeignete Pflegefamilie geleistet werden könne, seien große Fortschritte zu erzielen.

Die Eltern beantragten am 10.02.2003 die Unterbringung, Betreuung und medizinische Versorgung des Hilfeempfängers in einer Pflegefamilie, ersatzweise in der Kinderklinik. Sie seien nicht bereit und in der Lage, ihren Sohn zu Hause seiner Behinderung entsprechend zu versorgen. Die Klägerin leitete den Hilfeantrag an den (mit Beschluss des Senats vom 05.11.2009 beigeladenen) Beigeladenen zu 1 weiter.

Vom 06.03.2003 bis zum 15.09.2003 lebte der Hilfeempfänger sodann mit Kostenträgerschaft des Beigeladenen zu 1 als überörtlichem Sozialhilfeträger in der M in V (Einrichtung für mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche).

Am 26.06.2003 beantragten die Eltern bei der Beklagten die Gewährung von Hilfe zur Erziehung durch Tages-/Vollzeitpflege.

Die M übersandte der Klägerin am 16.07.2003 ein Schreiben des Beigeladenen zu 1 an sie vom gleichen Tage. Darin wird mitgeteilt, der Beigeladene könne mangels Zuständigkeit Kosten für die Betreuung des Hilfeempfängers in einer Pflegefamilie nicht übernehmen (§ 100 Abs. 1 Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz [BSHG]).

Am 19.07.2003 beantragten die Eltern, bezugnehmend auf ihren Antrag vom 10.02.2003, die Weitergewährung von Eingliederungshilfe. Ihr Sohn solle aus der M entlassen werden; sie seien nicht in der Lage, die Kosten für die erforderlichen Maßnahmen zu übernehmen. In einem weiteren Antrag vom 25.07.2003 beantragten die Eltern die Unterbri...

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