Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Satzungsbefugnis der Krankenkasse. Wahltarif. Unzulässigkeit der Ausdehnung des Leistungskatalogs des SGB 5. Eingriff in den privaten Versicherungsmarkt. Unvereinbarkeit mit Art 12 Abs 1 GG
Orientierungssatz
1. § 53 Abs 4 S 1 SGB 5 rechtfertigt nicht die Ausweitung auf eine Kostenerstattung für Leistungen, die das SGB 5 nicht als Sachleistungsanspruch den gesetzlich Krankenversicherten zur Verfügung stellt. Dies folgt aus Wortlaut, Gesetzessystematik sowie Sinn und Zweck dieser Regelung.
2. Es ist den Krankenkassen als Teil der öffentlichen Hand verwehrt, über das zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsfürsorge Gebotene und verfassungsmäßig Zulässige hinaus in den Bereich der privaten beruflichen Betätigung Dritter zu deren Nachteil einzugreifen (vgl BGH vom 18.12.1981 - I ZR 34/80 = BGHZ 82, 375 = juris RdNr 23).
3. Der unbegrenzte Zugang einer Krankenkasse in den für die private Versicherungswirtschaft besonders bedeutsamen Marktbereich der Versicherungsleistungen bedeutet einen erheblichen mit dem Schutz der Berufsausübungsfreiheit nach Art 12 Abs 1 GG nicht zu vereinbarenden Eingriff.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26.02.2014 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr ihren Versicherten Versicherungsleistungen in Form von Kostenerstattungstarifen für Zusatzleistungen anzubieten und/oder anbieten zu lassen und/oder zu bewerben und/oder bewerben zu lassen, wie dies in den §§ 26-29 der Satzung der Beklagten vom 01.04.2007 und in den §§ 34a-35 der Satzung der Beklagten vom 01.07.2012 jeweils in der zum 01.01.2018 in Kraft getretenen Fassung vorgesehen ist. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens zu 1/5 und die Beklagte zu 4/5 in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 1.000.000 Euro für das Berufungsverfahren festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Berechtigung der Beklagten, mittels ihrer Satzung zusätzliche Versicherungsleistungen als so genannte Wahltarife anzubieten.
Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) vom 26.03.2007 (BGBl. I S. 378) hat der Gesetzgeber den Krankenkassen die Befugnis eingeräumt, in ihren Satzungen vorzusehen, dass Mitglieder für sich und ihre nach § 10 mitversicherten Angehörigen Tarife für Kostenerstattung wählen, wobei die Krankenkassen die Höhe der Kostenerstattung variieren und hierfür spezielle Prämienzahlungen durch die Versicherten vorsehen können (§ 53 Abs. 4 S. 1 und 2 SGB V). Die Beklagte beschloss am 6.3.2007, ihre Satzung mit Blick auf dieses Gesetz zu ändern. Sie führte in den §§ 26 bis 29 neue Tarife zur Kostenerstattung ein für Leistungen im Ausland (§ 26), "Krankenhauszuzahlung" (§ 27), "Ein- oder Zwei-Bett-Zimmer" im Krankenhaus (§ 28) sowie bei Zahnersatz (§ 29). Das Landesversicherungsamt Nordrhein-Westfalen genehmigte die Änderung der Satzung (Bescheid vom 20.3.2007). Sie trat zum 01.04.2007 in Kraft. Die Rechtsmittel der Klägerin gegen diese Genehmigung blieben erfolglos (zuletzt Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12.03.2013 - B 1 A 2/12 R = SozR 4-1500 § 54 Nr. 33), ebenso das Nachsuchen um einstweiligen Rechtsschutz gegen den Vollzug der Satzung (Landessozialgericht (LSG) NRW, Beschluss vom 27.05.2008 - L 11 B 6/08 KR ER).
Die Klägerin hat am 06.08.2008 vor dem Sozialgericht Dortmund Klage mit dem Ziel erhoben, der Beklagten das Angebot dieser Versicherungsleistungen im geschäftlichen Verkehr zu untersagen. Sie hat die Auffassung vertreten, § 53 Abs. 4 SGB V ermächtige die Krankenkassen nicht durch ihre Satzungen zusätzliche Versicherungsleistungen anzubieten, die nach dem SGB V im Rahmen der GKV nicht vorgesehen seien. Dies treffe aber für alle in den §§ 26-29 der Satzung der Beklagten nunmehr vorgesehenen Leistungen zu. Das rechtswidrige Tarifangebot der Beklagten stelle eine Wettbewerbsverletzung im Sinne des UWG dar, welches trotz der Bestimmung des § 69 SGB V vorliegend Anwendung finde. Das SGB V erlaube der Beklagten nur entsprechende Zusatzversicherungen zu vermitteln, nicht aber selbst anzubieten, wie aus der Regelung des § 194 SGB V folge. Die Überschreitung dieser Kompetenz durch die eigene Leistungserweiterung begründe daher ein wettbewerbswidriges Handeln.
Eine andere Auslegung des § 53 Abs. 4 SGB V verletze das aus § 53 Abs. 9 SGB V folgende Quersubventionierungsverbot und stelle einen Eingriff in die nach Art. 3 und 12 GG geschützten Positionen der privaten Versicherer dar, woraus wiederum ein Unterlassungsanspruch resultiere. Schließlich verstoße das Angebot der Beklagten gegen europäisches Kartellrecht. Die Beklagte werde unter Missbrauch ihrer marktbeherrschenden Stellung als Wettbewerber auf dem entsprechenden Versicherungsmarkt tätig, auch wenn sie als Trägerin der GKV im Rahmen deren Auf...