Entscheidungsstichwort (Thema)
Rehabilitation und Teilhabe. Zuständigkeitsklärung. Zuständigkeit des erstangegangenen Jugendhilfeträgers. Folgeanträge. einheitlicher Leistungsfall. Ende der Erziehungsbedürftigkeit als Zäsur. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Ablehnungsbescheid. Wechsel der Eingliederungshilfe vom SGB 12 ins SGB 9 2018. Leistungszeitraum vor dem 1.1.2020. Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie. volljähriger Leistungsberechtigter. offener Leistungskatalog des § 54 SGB 12
Orientierungssatz
1. Grundsätzlich führt ein Folgeantrag bei einem einheitlichen Leistungsfall ausgehend von dem zu deckenden Bedarf nicht zur erneuten Begründung der Zuständigkeit nach § 14 SGB 9. Jedoch ist im Falle einer Leistungserbringung durch den Jugendhilfeträger das Ende der Erziehungsbedürftigkeit des Leistungsberechtigten als Zäsur anzusehen, sodass der ab diesem Zeitpunkt zu deckende Bedarf einen neuen Leistungsfall darstellt.
2. Eine vor dem 1.1.2020 bestehende Verpflichtung des Sozialhilfeträgers wird durch die Neukonzeptionierung des Eingliederungshilferechts und eine eventuell damit einhergehende neue Trägerschaft ab 1.1.2020 nicht berührt (vgl LSG Essen vom 17.5.2021 - L 9 SO 271/19 = juris RdNr 24).
3. § 54 SGB 12 stellt einen offenen Leistungskatalog dar. Der Regelung des § 54 Abs 3 SGB 12 ist nicht zu entnehmen, dass sie abschließend ist und Volljährige keine Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie erhalten können.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.09.2018 geändert. Der Beigeladene wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 01.01.2015 bis zum 30.06.2018 Eingliederungshilfe in Form der Vollzeitpflege in der Pflegefamilie A iHv 739,70 EUR monatlich zu erbringen.
Der Beigeladene hat die Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Eingliederungshilfe in Form der Bewilligung einer Betreuung in einer Pflegefamilie von Januar 2015 bis einschließlich Juni 2018.
Bei dem am 00.00.1988 geborenen Kläger besteht seit seiner Geburt eine Neurofibromatose Typ 1 mit erheblicher psychomotorischer und psychosozialer Retardation, grob- und feinmotorischen Störungen, Koordinations-, Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie Sprach- und emotionalen Störungen und einer geistigen Behinderung ("Morbus Recklinghausen"). Bei ihm sind ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen G, B und H anerkannt. Im streitigen Zeitraum bezog der Kläger von der Stadt Aachen fortlaufend Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Regelbedarf, Mehrbedarf nach § 42 Nr. 2 SGB XII wegen Erwerbsminderung, Kosten der Unterkunft, Heizkosten) sowie Pflegegeld iHv 430 EUR von der Pflegekasse nach Pflegegrad 2.
Der Kläger lebte seit seiner Geburt bei Familie A. Seit dem 01.07.2018 lebt er in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung. Die beigeladene Pflegemutter, Frau L A, ist seine Betreuerin. Sie ist ausgebildete Sozialpädagogin und Sprachtherapeutin. Vom Jugendamt der Stadt Aachen ist sie als Erziehungsstelle iSd SGB VIII anerkannt. Der Kläger besuchte bis zum Schuljahresende 2006/2007 eine Förderschule für Menschen mit geistiger Behinderung in Aachen. Seit September 2007 befindet sich der Kläger in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Mit Bescheid vom 08.01.2010 bewilligte der Beigeladene Leistungen zur Ausübung einer Beschäftigung durch Aufnahme des Klägers in den Arbeitsbereich der WfbM. Darüber hinaus erhielt der Kläger von der Beklagten Eingliederungshilfeleistungen in Form unterstützender Leistungen in einem Umfang von 2 mal 2 Wochenstunden zur Betreuung und Begleitung bei seinen Freizeitaktivitäten.
Der Kläger erhielt zunächst Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII von der Stadt Aachen (Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII, nach Eintritt der Volljährigkeit iVm § 41 SGB VIII als Hilfe für junge Volljährige). Mit Schreiben vom 10.08.2008 wandte die Beigeladene sich unter dem Betreff "Übernahme Unterbringungskosten für B K" an den Beigeladenen und schrieb "heute wende ich mich an Sie mit dem Antrag auf Übernahme der o.g. Kosten". Sie schilderte die Pflegesituation und bat um Prüfung, ob im Rahmen des Modellprojekts "Wohnen geistig behinderter Kinder und Jugendlicher in Pflegefamilien" eine Übernahme der Unterbringungskosten bei ihr durch den Beigeladenen möglich ist. Mit Schreiben vom 17.02.2009 teilte der Beigeladene dem Kläger mit, das Modellprojekt werde in Aachen nicht angeboten und beziehe sich ohnehin nur auf die Betreuung Minderjähriger. Was die Möglichkeiten anderer betreuter Wohnformen angehe, solle sich die Beigeladene an eine Beratungsstelle wenden. Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält das Schreiben nicht.
Den am 01.07.2010 gestellten Weiterbewilligungsantrag hinsichtlich der Jugendhilfeleistungen leitete die Stadt Aachen am 14.07.2010 per Fax an die Beklagte weiter. Mit Bescheid vom ...