Entscheidungsstichwort (Thema)
Versorgung eines gehbehinderten Versicherten mit einem transportablen Aktivrollstuhl durch die Krankenkasse. Kostenerstattung für selbstbeschaffte Leistung. Transportabler Aktivrollstuhl mit E-fix-Antrieb. Elektrorollstuhl. Mittelbarer Behinderungsausgleich. Abgrenzung medizinische und berufliche bzw. soziale Rehabilitation
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur “Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung” i.S.v. § 33 Abs. 1 S. 1, 1.Variante SGB V gehört nicht die Möglichkeit, einen Rollstuhl in den eigenen Pkw verladen und dadurch Ärzte und Therapeuten aufsuchen zu können.
2. Soweit die Versorgung mit einem – transportablen – Rollstuhl darauf abzielt, über den Nahbereich der Wohnung hinaus für sich die Mobilität eines Autofahrers zu erhalten, fällt dies ebensowenig in die Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers wie die Umrüstung des Pkw.
3. Ein Rollstuhl ist als Hilfsmittel nach § 31 SGB IX vom Katalog der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gem. § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX ausgeschlossen.
Orientierungssatz
1. Die Leistungspflicht der Krankenkasse für ein Hilfsmittel bemisst sich nach § 33 Abs. 1 SGB 5 danach, ob das Hilfsmittel zum unmittelbaren oder zum mittelbaren Behinderungsausgleich beansprucht wird. Beim unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts.
2. Hat ein Hilfsmittel dagegen den Zweck, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung i. S. eines mittelbaren Behinderungsausgleichs auszugleichen, so hat die Krankenkasse nur für einen Basisausgleich einzustehen. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der Krankenkasse nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Bedürfnis des täglichen Lebens betrifft.
3. Weil durch einen Rollstuhl nicht das Gehen selbst ermöglicht wird, sondern lediglich die Folgen der Funktionsbeeinträchtigung des eingeschränkten Gehvermögens ausgeglichen werden, unterfällt die Versorgung mit einem Rollstuhl dem mittelbaren Behinderungsausgleich.
4. Maßgeblich für den insoweit zu gewährenden Basisausgleich ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise noch zu Fuß erreicht.
5. Für die Bestimmung des Nahbereichs gilt ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnorts unabhängiger Maßstab.
6. Ist ein Versicherter bereits mit einem Elektrorollstuhl und einem Aktivrollstuhl mit Radnabenantrieb versorgt, so kann er sich sowohl innerhalb der Wohnung als auch im Nahbereich fortbewegen.
7. Erstrebt der gehbehinderte Versicherte durch die Versorgung mit einem transportablen Aktivrollstuhl für sich die Mobilität eines Autofahrers, um nicht jeweils auf die Hilfestellung und den Transport durch Dritte angewiesen zu sein, so besteht keine Leistungspflicht der Krankenkasse, weil es nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gehört, generell die Benutzung eines Pkw zu ermöglichen.
Normenkette
SGB V § 13 Abs. 3 S. 2, § 33 Abs. 1 S. 1, §§ 1, 31; SGB IX § 15 Abs. 1 S. 4, § 6 Abs. 1 Nr. 1, § 5 Nrn. 1-4, § 55 Abs. 2 Nr. 1
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 12.05.2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten in Höhe von 2.300 EUR für einen von ihr selbst angeschafften Aktivrollstuhl.
Die 1946 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse krankenversichert. Sie leidet an Poliomyelitis mit kompletter Paralyse der Beine, Lähmungsskoliose und chronischer Cervicobrachialgie. Bei ihr wurden ein Grad der Behinderung von 100, die Merkzeichen "G", "aG", "H", "RF" und die Pflegestufe II anerkannt.
Die Klägerin ist mit einem Aktivrollstuhl mit Radnabenantrieb (E-fix-Antrieb) und einem Elektrorollstuhl für den Außenbereich versorgt. Außerdem nutzte sie in der Vergangenheit einen Faltrollstuhl, den sie in ihr Auto verladen konnte, der aber mittlerweile defekt ist. Bereits im Jahre 2005 hatte sie die Versorgung mit einem weiteren (Aktiv-)Rollstuhl beantragt. Dieser Antrag blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 07.06.2005 und Widerspruchsbescheides vom 20.02.2006, bestätigt durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Detmold vom 09.07.2008 - S 3 KR 23/06 -).
Im Februar 2009 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer Verordnung des Facharztes für Orthopädie Dr. L bei der Beklagten erneut die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl (Modell "Compact" der Firma L). Gemäß einem Kostenvoranschlag sollten sich die Kosten auf 2.298,36 EUR belaufen.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20.04.2009 ab. Die Klägerin sei bereits mit einem Aktivrollstuhl mit E-Antrieb und einem Elektrorollstuhl ausgestattet.
Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihre gesundheitliche Situat...