Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortführung des sozialgerichtlichen Verfahrens nach zu Unrecht fingierter Rücknahme der Klage
Orientierungssatz
1. Hat der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben, so wird nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG die Rücknahme der Klage fingiert.
2. Hat das Gericht für seine Betreibensaufforderung die Zustellung durch Postzustellungsurkunde gewählt, so kann der Gegenbeweis des tatsächlich zutreffenden Zustellungsdatums nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden. Nur so wird ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt (Anschluss: BSG, Beschluss vom 13. November 2008, B 13 R 138/07 B; JurBüro 2009, 224).
3. Werden bei der Zustellung wesentliche Vorschriften verletzt, so ist die Zustellung unwirksam. Fristen beginnen dann nicht zu laufen.
4. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es gemäß § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es tatsächlich zugegangen ist.
5. Hat hiernach entsprechend der tatsächlich zugegangenen Betreibensaufforderung die innerhalb der Drei-Monats-Frist bei Gericht eingegangene Klagebegründung das Eintreten der Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 SGG verhindert, so ist das Klageverfahren noch rechtshängig und fortzuführen.
6. Ist die Rechtshängigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens zu keinem Zeitpunkt entfallen, hat das Sozialgericht von Amts wegen über das noch offene Verfahren zu entscheiden.
Zitierung:
BSG, Beschluss vom 24. November 2009, B 12 KR 27/09 B
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 04.05.2011 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 4 AL 127/10 noch erstinstanzlich beim Sozialgericht Detmold anhängig ist.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klage wegen Nichtbetreibens des Verfahrens gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gilt.
Am 05.03.2010 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Detmold Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 24.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2010 (Aktenzeichen: S 4 AL 127/10) erhoben. Er hat die Verurteilung der Beklagten begehrt, ihm Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 06.10. bis zum 31.10.2009 zu bewilligen. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.11.2009 hatte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld ab dem 11.12.2009 bewilligt. Er habe sich erst am 10.11.2009 persönlich arbeitslos gemeldet; seine Arbeitslosmeldung am 22.06.2009 sei bei einer unzuständigen Agentur für Arbeit erfolgt.
Nachdem der Bevollmächtigte des Klägers trotz gerichtlicher Erinnerung vom 21.07.2010 keine Klagebegründung vorlegt hatte, hat die Kammervorsitzende mit Verfügung vom 18.11.2010 eine Betreibensaufforderung gegenüber dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit dem Inhalt erlassen, das Verfahren innerhalb von drei Monaten nach Zustellung dieser Aufforderung durch Vorlage einer Klagebegründung zu betreiben. Es folgte der Hinweis, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gilt, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Die Betreibensaufforderung wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Postzustellungsurkunde vom 23.11.2010 zugestellt. Der Zusteller der Deutschen Post, Herr T, bestätigte mit seiner Unterschrift, den Tag der Zustellung auf dem Umschlag des Schriftsatzes vermerkt zu haben. Er kreuzte in der Postzustellungsurkunde ferner das Feld 10.2 an, wonach das Schriftstück in den zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt worden sei, weil die Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich gewesen sei. Den Versuch, das Schriftstück in der (in einem Obergeschoss gelegenen) Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers zu übergeben, hatte Herr T jedoch tatsächlich nicht unternommen, sondern das Schriftstück sogleich in den (im Erdgeschoss angebrachten) Briefkasten der Kanzlei eingelegt.
Am 24.02.2011 hat das SG Detmold das Klageverfahren S 4 AL 127/10 aufgrund einer Erledigung durch Rücknahme im Verfahrensregister ausgetragen. Am selben Tag ging bei dem SG die Klagebegründung zu dem Verfahren S 4 AL 127/10 ein.
Mit Schreiben vom 28.02.2011 hat das SG dem Bevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, seine Klagebegründung sei nach Fristende (23.02.2011 - Mittwoch - 24.00 Uhr) und damit verspätet eingegangen; der Rechtsstreit sei als Klagerücknahme gelöscht worden.
Mit Schriftsatz vom 04.03.2011 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Die Betreibensaufforderung sei am 24.11.2010 bei ihm eingegangen, der Eingang der Klagebegründung am 24.02.2011 sei daher noch rechtzeitig. Sein Büro sei ...