Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegen die Krankenkasse bei Versorgung eines Behinderten mit Hilfsmitteln
Orientierungssatz
1. Der Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers richtet sich wegen des institutionellen Nachranges der Sozialhilfe stets nach § 104 Abs. 1 SGB 10. Hat der Sozialhilfeträger einen Versicherten mit verordneten Einmalwindeln versorgt, die die Krankenkasse als vorrangig Leistungspflichtiger zu erbringen hatte, so ist die Krankenkasse dem Sozialhilfeträger erstattungspflichtig.
2. Ärztlich verordnete Einmalwindeln sind Hilfsmittel der Krankenversicherung und keine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, wenn sie u. a. wegen Harninkontinenz erforderlich sind.
3. Die Hilfsmittelversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung soll jeden Behinderungsausgleich ermöglichen, und damit auch einen nur geringen Ausgleich auf geringem Niveau. Einen Anspruch auf einen solchen Ausgleich hat auch ein Behinderter, der nur im Rollstuhl und nur in Begleitung am öffentlichen Leben teilnehmen kann.
4. Das Verbot einer Benachteiligung Behinderter aus Art. 3 Abs. 2 GG verbietet, im Rahmen einer grundsätzlich nach § 33 Abs. 1 SGB 5 bestehenden Leistungspflicht, den Anspruch im konkreten Einzelfall wegen der Behinderung zu versagen. Die Versorgung mit Einmalwindeln fällt in Abgrenzung zur Leistungspflicht des Pflegeheims systematisch in die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 22.03.2004 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3610,52 Euro zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 4.170,50 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Streitig ist ein Erstattungsanspruch wegen der Versorgung der Beigeladenen zu 1 mit Windelhosen (sog. Einmalwindeln).
Die 1978 geborene Beigeladene zu 1 leidet an einer Tetraspastik mit Cerebralparese bei Zustand nach Meningoencephalitis. Sie ist zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl und bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Seit 1994 ist sie in der von der Beigeladenen zu 2 betriebenen Behinderteneinrichtung "Kinder- und Pflegeheim W." untergebracht. Sie war bis zum 30.6.2005 bei der Beklagten gegen Krankheit versichert, zum 1.7.2005 wechselte sie zur AOK Bayern. Von der Beigeladenen zu 3 erhielt sie bis zum 30.6.2005 Leistungen der Pflegestufe III nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI).
Wegen einer vollständigen Harn- und Stuhlinkontinenz ist die Beigeladene zu 1 auf Windelhosen angewiesen, die durch ihren behandelnden Arzt für Allgemeinmedizin Dr. T aus W. laufend als "Windelhosen Größe 2 für einen Monat wegen Harn- und Stuhlinkontinenz bei spastischer Cerebralparese" (im Folgenden: Einmalwindeln) verordnet werden. Die Einmalwindeln wurden bis Mitte 2000 von der Beklagten in der Art und Weise gewährt, dass die Beigeladene zu 2 die Beigeladene zu 1 auf der Grundlage der ärztlichen Verordnungen mit den Windeln versorgte, diese in Rechnung stellte und die Beklagte die Rechnungen beglich.
Dr. T teilte im März 2001 unter Verwendung eines von der Beklagten übersandten Formulars ("Attest zur Notwendigkeit der Versorgung mit Inkontinenzartikeln") mit, die Beigeladene zu 1 sei nicht in der Lage, die Wohnung zu verlassen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Inkontinenzartikel seien erforderlich, weil ein Dekubitus oder Dermatosen drohten; die Patientin könne Harn- und/oder Stuhlabgang nicht kontrollieren, sie könne sich auch nicht selbst bemerkbar machen und sich deshalb selbst nicht vor Schäden aus längerer Einwirkung von Harn und Stuhl auf die Haut bewahren (Attest vom 28.3.2001). Beratende Ärztin L vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) L1 kreuzte an, die beantragte Leistung werde befürwortet, und fügte handschriftlich hinzu "als Pflegehilfsmittel!" (Stellungnahme vom 19.4.2001). Dies nahm die Beklagte zum Anlass, der Beigeladenen zu 2 mitzuteilen, dass eine Kostenübernahme für die Einmalwindeln im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht (mehr) möglich sei, weil dauernde Bettlägerigkeit vorliege und die Inkontinenzartikel allein aus hygienischen und pflegerischen Gesichtspunkten zum Einsatz kämen.
Der Betreuer der Beigeladenen zu 1 wandte sich gegen die Einstellung der Leistung und wies die Beklagte darauf hin, dass ihm unklar sei, wie die Beigeladene zu 1 an einer Fördergruppe teilnehmen solle oder im Rollstuhl sitzen könne, wenn sie keine Windeln trage. Erst die Versorgung mit Windeln ermögliche ihr die regelmäßige Teilnahme am öffentlichen Leben. Sie sei nicht in der Lage, anderen mitzuteilen, wenn sie zur Toilette müsse. Er beantragte beim Kläger, die Kosten für die Inkontinenzartikel (hilfsweise) zu übernehmen. Nachdem der Kläger in Erfahrung gebracht hatte, dass die Kosten für Inkontinenzartikel nicht im Pflegesatz des Kinder- und Pflegeheims enthalten sind, le...