Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Zahnimplantatversorgung. Contergangeschädigter. Kostenerstattung. erweiternde Auslegung
Orientierungssatz
Eine erweiternde Auslegung der Regelungen des § 28 Abs 2 S 9 SGB 5 iVm Teil B Abschn VII Nr 2 S 4 Buchst a der Behandlungsrichtlinie - ZÄBeh-RL (juris: ZÄVersorgRL) dahingehend, dass ein Versicherter, der zum Kreis der Contergangeschädigten gehört, einen Anspruch auf Kostenerstattung für eine Zahnimplantatversorgung hat, kommt nicht in Betracht.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 01.02.2011 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Kostenerstattung für eine im Jahr 2010 durchgeführte Zahnimplantatversorgung in Höhe von 4.029,12 Euro in Anspruch.
Der 1962 geborene Kläger ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert und gehört zum Personenkreis der Contergangeschädigten. Es bestehen bei ihm u.a. Missbildungen der beiden oberen Extremitäten. Aufgrund einer später erlittenen Kopfverletzung ist er in der Grobmotorik seiner (missgebildeten) Hände stark beeinträchtigt. Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 100 (Merkzeichen B, G, aG) und schwer pflegebedürftig (Pflegestufe II).
Am 18.03.2010 beantragte er bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Zahnimplantatversorgung. Er legte hierzu einen vertragsärztlichen Heil- und Kostenplan (HKP) vom 11.01.2010 und einen privatärztlichen HKP "Implantologie" für die Implantatversorgung von zwei Zähnen (26 und 27) vor. Die hierfür anfallenden Kosten wurden auf ca. 4.500,00 EUR veranschlagt.
Unter dem 25.03.2010 setzte die Beklagte auf dem vertragsärztlichen HKP einen doppelten Festzuschuss nach der Härtefallregelung des § 55 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Höhe von 579,14 Euro fest und teilte dies dem Kläger mit. Die Übernahme der den bewilligten Festzuschuss übersteigenden Kosten einer Implantatbehandlung und eines implantatgestützten Zahnersatzes lehnte die Beklagte demgegenüber ab und führte hierzu aus, dass keine Ausnahmeindikation vorliege, die nach den gesetzlichen Bestimmungen eine Beteiligung der Krankenkasse an diesen Kosten zulasse (Bescheid vom 25.03.2010).
Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger im Wesentlichen geltend, dass die Beklagte bei ihrer Entscheidung seine beidseitige, durch Contergan hervorgerufene Armbehinderung und die daraus resultierende Notwendigkeit einer Implantatversorgung nicht berücksichtigt habe.
Den Widerspruch wies die Beklagte zurück und stützte sich im Wesentlichen darauf, dass bei dem Kläger keine der in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinie) genannten Ausnahmeindikationen vorliege (Widerspruchsbescheid vom 01.09.2010).
In der Zeit vom 27.04.2010 bis 04.06.2010, im November 2010 und zuletzt am 16.12.2010 hat sich der Kläger bei dem Vertragszahnarzt Dr. T der beantragten Implantatbehandlung unterzogen. Hierfür sind ihm unter dem 12.06.2011, 27.11.2011 und 31.12.2010 insgesamt 4.608,26 Euro in Rechnung gestellt worden. Die für die Implantatversorgung verbleibenden Kosten (nach Abzug des Festzuschusses) von 4.029,12 Euro hat der Kläger zwischenzeitlich vollständig beglichen.
Im Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen: Aufgrund seiner Conterganschädigung habe die Notwendigkeit eines vermehrten Einsatzes seiner Zähne - z.B. beim Öffnen von Flaschen - bereits im Kindesalter zu einem übermäßigen Verschleiß seiner Zähne geführt. Aufgrund seiner Behinderung sei er nicht in der Lage, herausnehmbare Zahnprothesen einzusetzen und wieder aus dem Mund herauszunehmen. Er müsse zwar einräumen, dass nach dem Wortlaut der Behandlungsrichtlinie keine Ausnahmeindikation für eine Zahnimplantatversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bestehe. Allerdings sei von einem Systemversagen auszugehen. Der GBA als Richtliniengeber habe nämlich die besondere Situation der Contergangeschädigten nicht bedacht. Seine Situation (wie auch die der übrigen Contergangeschädigten) sei durch einen Unfall verursacht worden. Sowohl aus dem Sozialstaatsprinzip als auch aus der mit dem Conterganskandal verbundenen staatshaftungsrechtlichen Fürsorgepflicht ergebe sich, dass eine Gleichstellung mit Unfällen im Sinne einer Ausnahmeindikation nach der Behandlungsrichtlinie zu erfolgen habe. Überdies habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber/Staat dafür Sorge tragen müsse, dass die Leistungen der Conterganstiftung auch künftig den jeweiligen Anforderungen gerecht würden. Zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und den Spitzenverbänden der Krankenkassen sei es zu einer Verständigung dahin gekommen, gegenüber thalidomidgeschäd...