Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Zugunstenverfahren. Aktualitätsprinzip. keine Nachzahlung von Analogleistungen gem § 2 AsylbLG für die Vergangenheit bei Bedürftigkeitswegfall. Kinderzuschlag gem § 6a Abs 1 Nr 4 BKGG 1996. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine nach § 44 SGB 10 rückwirkende Gewährung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG kommt nicht in Betracht, wenn eine Bedürftigkeit für Leistungen nach dem AsylbLG bzw für Leistungen nach einem grundsicherungsrechtlichen Leistungsregime zwischenzeitlich temporär oder auf Dauer weggefallen ist (vgl LSG Essen vom 23.5.2011 - L 20 AY 139/10).
2. Dies gilt auch dann, wenn Bedürftigkeit nach dem AsylbLG bzw dem einschlägigen grundsicherungsrechtlichen Leistungsregime (hier: SGB 2) nur deshalb nicht vorliegt, weil eine andere Sozialleistung, deren Gewährung an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen und damit an ihre Bedürftigkeit (im weiteren Sinne) anknüpft (hier: Kinderzuschlag nach § 6a BKGG 1996), bezogen wird.
3. Die Leistungssysteme des SGB 2 und des SGB 12 haben (neben dem AsylbLG) die Funktion, für den von ihnen erfassten Personenkreis abschließend und insgesamt lückenlos das Niveau des menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG zu sichern. Damit bestimmen sie zugleich die Grenze, oberhalb derer Bedürftigkeit grundsätzlich nicht mehr besteht.
4. Ist diese Obergrenze überschritten, scheidet eine Nachzahlung nach § 2 AsylbLG iVm § 44 Abs 4 S 1 SGB 10 aus.
Orientierungssatz
1. Die Regelung des § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 zur rückwirkenden Korrektur bestandskräftiger, rechtswidriger Leistungsablehnungen ist im Asylbewerberleistungsrecht anwendbar (vgl LSG Essen vom 23.5.2011 - L 20 AY 139/10 und Anschluss an BSG vom 17.6.2008 - B 8 AY 5/07 R = SozR 4-3520 § 9 Nr 1).
2. Die Bemessung der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG ist für den vorliegenden Zeitraum 1.1.2005 bis 30.6.2007 auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 nicht verfassungswidrig.
Tenor
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.9.2010 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger begehren die Gewährung einer höheren Nachzahlung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Die Kläger zu 1 und 2 wurden 1973 bzw. 1972 in Q (Kosovo) geboren und sind seit 2008 verheiratet. Sie reisten 1991 in die Bundesrepublik ein und besitzen ebenso wie ihre gemeinsamen 1993, 1995 und 2000 geborenen Kinder, die Kläger zu 3 - 5, die kosovarische Staatsangehörigkeit.
In der Vergangenheit verfügten die Kläger zunächst durchgängig über ausländerrechtliche Duldungen. Sie wohnen seit 1992 im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten, die ihnen seit mehr als vier Jahren Leistungen nach § 3 AsylbLG (sog. Grundleistungen) gewährte.
Am 16.4.2007 nahm der Kläger zu 1 eine - zunächst auf ein Jahr befristete - versicherungspflichtige Beschäftigung bei der Firma T GmbH in H auf. Die Klägerin zu 2 war weiterhin nicht erwerbstätig. Vor diesem Hintergrund erteilte die Beklagte unter dem 22.5.2007 einen "Einstellungsbescheid", in dem sie ausführte, sie werde mit Wirkung vom 1.6.2007 keine Leistungen mehr an die Kläger erbringen, weil die Kläger zu 1 und 2 in der Lage seien, durch eigenes Einkommen den Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen. Der letzte, am 4.4.2007 erlassene Bescheid verliere ab dem 1.6.2007 seine Gültigkeit. Grundleistungen nach dem AsylbLG erhielten die Kläger jedoch noch bis einschließlich zum 30.6.2007.
Bei der Firma T GmbH arbeitete der Kläger zu 1 zunächst bis zum Frühjahr 2009. Seine monatlichen Nettoeinkünfte beliefen sich zunächst auf etwa 1.000,00 EUR und ab August 2008 auf etwa 1.300,00 EUR. Daneben zahlte die Familienkasse S Kindergeld und (zeitweise) Kinderzuschlag nach § 6a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG). Die Kläger erhielten teilweise auch Wohngeld.
Im Einzelnen verfügte die Familie im Oktober 2008 über folgende Einkünfte:
Kinderzuschlag für September 2008 294,00 EUR (Kontoeingang 9.10.)
Kindergeld für Oktober 2008 462,00 EUR (Kontoeingang 9.10.)
Nettoeinkommen Kläger zu 1 1.343,02 EUR (Kontoeingang 16.10.)
Kinderzuschlag für Oktober 2008 340,00 EUR (Kontoeingang 17.10)
Summe: 2.439,02 EUR
Die Kosten der Familie für Unterkunft und Heizung beliefen sich im Oktober 2008 auf 390,00 EUR.
Zwischenzeitlich erhielten die Kläger zu 2 - 5 im April bzw. Juli 2008 vom Ausländeramt des Kreises T Aufenthaltserlaubnisse auf der Grundlage des § 104a Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Auch dem Kläger zu 1 wurde im Anschluss daran eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG erteilt.
Am 20.5.2009 beantragten die Kläger bei der Beklagten, ihnen Leistungen entsprechend dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) nach § 2 AsylbLG (sog. Analogleistungen) zu gewähren, und zwar rückwirkend...