Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf. Assistenzleistungen für die Durchführung eines Hochschulstudiums. Begriff angemessenen Berufs. Vorliegen der Voraussetzungen nach § 13 Abs 2 BSHG§47V
Orientierungssatz
1. In welchem Maß und durch welche Aktivitäten ein behinderter Mensch am Leben in der Gemeinschaft teilnimmt, ist abhängig von seinen individuellen Bedürfnissen unter Berücksichtigung seiner Wünsche. Es gilt mithin ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der regelmäßig einer pauschalierenden Betrachtung des Hilfefalls entgegensteht (vgl BSG vom 8.3.2017 - B 8 SO 2/16 R = SozR 4-1500 § 55 Nr 20 RdNr 18).
2. Zum Begriff des "angemessenen Berufs" in § 54 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB 12 aF.
3. Zum Vorliegen der Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nach § 13 Abs 2 BSHG§47V.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 03.09.2020 sowie der Bescheid des Beklagten vom 10.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2017 geändert und der Beklagte verurteilt, dem Kläger Kosten in Höhe von 2.317,98 Euro zu erstatten.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind Eingliederungshilfeleistungen für die Durchführung eines Hochschulstudiums.
Bei dem am 00.00.1991 geborenen Kläger sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie unter anderem die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "Bl." (Blindheit), "H" (Hilflosigkeit) und "RF" (Rundfunkbeitragsermäßigung) festgestellt. Er bezieht laufend Blindengeld.
Im Juni 2011 legte der Kläger sein Abitur an einem staatlich anerkannten Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte in Marburg mit einer Gesamtdurchschnittsnote von 3,0 ab. Vom 01.09.2011 bis 26.11.2014 absolvierte der Kläger bei der Deutschen Blindenstudienanstalt eine Ausbildung zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung. Diese schloss er mit einer Nachprüfung erfolgreich ab. In der Folgezeit übte er diverse geringfügige Beschäftigungen aus. In der übrigen Zeit war er erwerbslos. Eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt als Fachinformatiker erfolgte trotz Vermittlungsbemühungen seitens der Agentur für Arbeit D und Eigenbemühungen des Klägers nicht.
Unter dem 23.06.2016 beantragte der Kläger beim Beklagten Eingliederungshilfeleistungen. Er beabsichtige die Aufnahme eines Jurastudiums an der Westfälischen-Wilhelms-Universität (WWU) in Münster. Aus diesem Grund benötige er zunächst eine Vorleseassistenz im Umfang von monatlich 80 Stunden à 60 Minuten. Für die Erstellung von Hausarbeiten seien zusätzlich jeweils 120 Stunden erforderlich. Ferner benötige er eine Mitschreibkraft für die Vorlesungen selbst. Schließlich sei ein Mobilitätstraining im Umfang von 15 bis 20 Stunden notwendig. Seinem Antrag fügte er unter anderem Unterlagen seiner Bank bei, aus denen hervorging, dass er im Mai 2016 einen Bausparvertrag mit einer Wertstellung von 1.166,79 Euro besaß (für den 07.07.2018 ist eine Wertstellung von 1.726,50 Euro nachgewiesen).
Der Kläger teilte dem Beklagten in einem Schreiben vom 16.09.2016 mit, dass das Studium bald beginnen werde und er in Vorleistung treten müsse, wenn er bis zum 04.10.2016 keine Entscheidung erhalte.
Mit einer E-Mail vom 03.10.2016 übersandte der Kläger dem Beklagten einen aktuellen Kontoauszug über seine Girokonten. Daraus ergab sich zum 03.10.2016 ein Gesamtguthaben von 2.122,34 Euro, wobei allein 2.094,75 Euro auf das Blindengeld entfielen.
Der Kläger nahm Anfang Oktober 2016 das Studium an der WWU in Münster auf, für dessen Durchführung er Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in Höhe von anfänglich 416,00 Euro im Monat erhielt, wobei jeweils die Hälfte dieses Betrages als Darlehen und als Zuschuss gewährt wurden. Der Kläger nahm zwischen Oktober und Dezember 2016 Orientierungs- und Mobilitätsunterricht sowie Betreuungsleistungen durch eine Mobilitätstrainerin und einen Betreuer in Anspruch, wofür Kosten in Höhe von 2.317,98 Euro anfielen, die der Kläger beglich. Die monatliche Miete für die Wohnung des Klägers im Studentenwohnheim beträgt 267,74 Euro. Auf den Bescheid des Studierendenwerks Münster zu den gewährten BAföG-Leistungen, die Rechnungen der Mobilitätstrainer und den Mietvertrag wird Bezug genommen.
Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 10.10.2016 ab. Ein Anspruch nach den eingliederungshilferechtlichen Vorschriften bestehe nicht, weil der Kläger einen angemessenen Beruf bereits erlernt habe und weil ein unmittelbarer zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen der Berufsausbildung und der Aufnahme des Studiums nicht bestehe; einen solchen Zusammenhang würden auch die Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) verlangen.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, dass er vor dem Ende seiner Ausbildung,...