Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Gebietskörperschaft als richtiger Klagegegner. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Anwendbarkeit des § 44 SGB 10. Mehrbedarf bei Erwerbsminderung. rückwirkende Zahlung
Leitsatz (amtlich)
1. Richtiger Klagegegner ist die beklagte Stadt als Rechtsträgerin der begehrten Leistungen nach dem SGB 12 (Abweichung, BSG vom 16.10.2007 - B 8/9b SO 8/06 R).
2. Die Vorschrift des § 44 SGB 10 ist sowohl auf Sozialleistungen nach dem BSHG als auch auf das SGB 12 anwendbar, soweit es um einen Anspruch auf rückwirkende Zahlung des Mehrbedarfs wegen Erwerbsminderung geht.
Orientierungssatz
1. Die Vorschrift des § 70 Nr. 3 SGG enthält hinsichtlich der Parteifähigkeit einer Behörde keine Abkehr vom Rechtsträgerprinzip. Fehlt es an einer landesrechtlichen Bestimmung i. S. dieser Vorschrift, so kann das Gericht die gegen eine Behörde gerichtete Klage auf die beklagte Gebietskörperschaft umstellen.
2. Ob die Vorschrift des § 44 Abs. 1 SGB 10 auf sämtliche Sozialleistungen anwendbar ist, wird von der Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt. Nach Auffassung des Senats ist die Vorschrift auf die pauschalierte Leistung des Mehrbedarfs wegen Erwerbsminderung nach § 30 Abs. 1 SGB 12 bzw. § 23 Abs. 1 BSHG anwendbar.
3. Ob der Grundsatz "Keine Hilfe für die Vergangenheit" einer Anwendung des § 44 Abs. 1 SGB 10 entgegensteht, bleibt einer Einzelfallentscheidung vorbehalten. Dabei ist entscheidend, wann die Leistungsvoraussetzungen dem Sozialhilfeträger bekannt geworden sind und ob Leistungen für einen Zeitraum vor oder nach diesem Zeitpunkt begehrt werden.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14.03.2007 wird aufgehoben und die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.06.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.08.2006 verurteilt, die Bescheide vom 15.12.2003, 23.03.2004, 22.06.2004, 22.09.2004, 20.10.2004, 18.11.2004, 16.12.2004, 18.03.2005, 20.06.2005, 19.08.2005 sowie sämtliche übrigen Verwaltungsakte auch in Gestalt von Zahlungen für den Zeitraum von Februar 2004 bis September 2005 soweit zurückzunehmen, als der Klägerin für die Zeit von Februar bis Dezember 2004 ein Mehrbedarf wegen Erwerbsminderung in Höhe von 47,40 Euro und für die Zeit von Januar bis September 2005 ein Mehrbedarf in Höhe von 46,92 Euro monatlich versagt worden ist, sowie diese Mehrbedarfe zu gewähren. Die Kosten in beiden Rechtszügen sind der Klägerin zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Erwerbsminderung für den Zeitraum von Januar 2004 bis September 2005 im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren (SGB X).
Die im Mai 1985 geborene Klägerin bezog ab 1991 Leistungen nach dem am 31.12.2004 außer Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Seit 1996 besitzt sie einen Schwerbehindertenausweis, aus dem auch das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) hervorgeht. In einer ärztlichen Stellungnahme vom 01.04.2003 führte der Direktor der Klinik für Thorax- und Kardiovaskuläre Chirurgie der Universitätsklinik F, Prof. Dr. K, aus, die Erkrankungen der Klägerin seien so gravierend, dass sie zur kombinierten Herz-Lungen-Transplantation vorgesehen sei. Aufgrund rezidivierender Synkopen in den letzten Wochen sei eine Teilnahme am gesamten Schulunterricht nicht möglich, dieser müsse auf einige Stunden am Tag reduziert werden. In einem ärztlichen Attest vom 09.12.2003 teilte der Internist und Diabetologe Dr. J mit, die Klägerin leide an einer ausgeprägten Herz-/Lungenerkrankung, die bei regelmäßig auftretenden Luftnotzuständen eine Sauerstofftherapie erfordere. Diesbezüglich sei sie zu Hause mit einem entsprechenden elektrischen Sauerstoffgerät versorgt, eine Stromzufuhr müsse sichergestellt sein. Bereits am 29.06.2004 stellte der ärztliche Dienst der Beklagten fest, dass aufgrund der bei der Klägerin vorliegenden Grunderkrankungen eine volle Erwerbsminderung i.S.d. § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) vorliege. Der weitere Verlauf bleibe abzuwarten. Es empfehle sich ggf. eine erneute Anfrage in einem Jahr. Unter dem 27.06.2005 gelangte der ärztliche Dienst zu der Einschätzung, bei der Klägerin bestehe weiterhin eine volle Erwerbsminderung.
Bereits zuvor im Januar 2004 beantragte die Klägerin einen Mehrbedarf wegen Erwerbsminderung nach § 23 Abs. 1 BSHG. Spätestens im Februar 2004 wurde der Schwerbehindertenausweis der Klägerin bei der Beklagten aktenkundig, aus dem neben einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 und dem Merkzeichen "G" auch das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "B", "aG", "RF und "H" hervorgeht.
Für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2004 erließ die Beklagte mehrere mit Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheide über Leistungen nach dem BSHG und für den Zeitra...