Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen Erwerbsminderung. Altersrente. Entgeltpunkte. Zugangsfaktor. Systemversprechen. Vorleistung. Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Es gibt keine Rechtsgrundlage für die Kürzung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei einem Versicherten, der zum Zeitpunkt des Leistungsfalls das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.

 

Orientierungssatz

§ 77 SGB 6 rechtfertigt nicht in der erforderlichen Bestimmtheit einen Rentenabschlag für Fälle, in denen eine Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr gewährt wird (Anschluss an BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3).

 

Normenkette

SGB VI §§ 59, 63 Abs. 5, §§ 77, 102 Abs. 2, § 264c; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 S. 2

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 17.08.2004 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 18.03.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2003 verurteilt, dem Kläger am 01.12.2002 eine ungekürzte Rente wegen voller Erwerbsminderung für 17,1217 Entgeltpunkte mit dem Zugangsfaktor 1 zu gewähren. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger volle Erwerbsminderungsrente nach einem verminderten Zugangsfaktor gewähren darf.

Auf den Rentenantrag vom 19.12.2000 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 20.06.2002 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.03.2002. In dem nachfolgend bei dem Sozialgericht Detmold geführten Klageverfahren S 16 (7) RJ 32/02, in dem der Kläger die Gewährung voller Erwerbsminderungsrente begehrte, schlossen die Beteiligten den Vergleich, bei dem Kläger volle Erwerbsminderung auf Dauer seit 20.11.2002 anzunehmen zu Leistungen nach Maßgabe sozialrechtlicher Vorschriften (über Beginn, Berechnung Anrechnung anderer Leistungen) zu erbringen. Aufgrund des Vergleichs bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 18.03.2003 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.05.2003. Als Summe aller Entgeltpunkte ermittelte die Beklagte 36,2433 Punkte. Zum Zugangsfaktor führte sie aus, die Hälfte der Entgeltpunkte, die bereits Grundlage für die gewährte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gewesen seien, behielten den Zugangsfaktor von 0,955, demzufolge seien insoweit 17,7932 Punkte zugrunde zu legen. Der Zugangsfaktor für die andere Hälfte der Entgeltpunkte sei grundsätzlich 1,0. Er vermindert sich für jeden Kalendermonat nach dem 01.07.2010 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003. Bei 24 Kalendermonaten ergebe sich eine Minderung um 0,072 auf 0,928 für 17,7931. Entgeltpunkte. Für die Entgeltpunkte von 0,6570, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten an Rente gewesen seien, ergebe sich ebenfalls eine Verminderung für 24 Kalendermonate um 0,072. Die persönlichen Entgeltpunkte betrügen somit

17,7932 x 0,955 = 16,9925 17,7931 x 0,928 = 16,5120 0,6579 x 0,928 = 0,6097 Summe der persönlichen Entgeltpunkte = 34,1142.

Mit Schreiben vom 18.04.2003, eingegangen am 23.04.2003, legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.03.2003 ein. Mit der am 24.06.2003 eingegangenen Widerspruchsbegründung beanstandete er die Minderung des Zugangsfaktors auf 0,928 und in dem Bescheid vom 20.06.2002 auf 0,955. Er hielt die Rentenminderung für unvereinbar mit Artikel 14 des Grundgesetzes (GG).

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.11.2003 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.03.2003 zurück. Der Zugangsfaktor sei unter Beachtung der gesetzlichen Regelungen des § 77 Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI) erfolgt. Danach sei der Zugangsfaktor bei einer vollen Erwerbsminderungsrente zwar grundsätzlich 1,0. Er vermindere sich bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder bei Erziehungsrenten, die vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres beginnen, um jeweils 0,003 für jeden Kalendermonat.

Gegen den am 05.11.2003 abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 27.11.2003 Klage bei dem Sozialgericht Detmold erhoben.

Der Kläger macht geltend, er habe bis zum Tage des erlittenen Unfalls am 04.02.1984 Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt. Sie seien sein persönliches Eigentum. Dieses erarbeitete Eigentum sei für eine Altersrente bzw. für ein angemessenes Einkommen im Falle einer Erwerbsunfähigkeit vorgesehen. Daher sei die Verminderung der Rente ein Eingriff in sein persönliches Vermögen und mit Artikel 14 Grundgesetz unvereinbar.

Der Kläger hat sinngemäß beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18.03.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2003 zu verurteilen, ihm ab dem 01.12.2002 eine ungekürzte Rente wegen voller Erwerbsminderung mit dem Zugangsfaktor 1,0 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialger...

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