Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Wahrnehmung des Umgangsrechts mit einem im Ausland lebenden Kind. Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten

 

Orientierungssatz

1. Bei der Bemessung des Mehrbedarfs wegen eines Umgangsrechts ist eine individualisierende Betrachtung verfassungsrechtlich geboten, die alle das Eltern-Kind-Verhältnis bestimmenden Umstände würdigt. Es sind demnach das Alter, die Entwicklung und die Zahl der Kinder, die Intensität ihrer Bindung zum Umgangsberechtigten, die Einstellung des anderen Elternteils zum Umgangsrecht, insbesondere das Vorliegen und der Inhalt einverständlicher Regelungen, die Entfernung der jeweiligen Wohnorte beider Elternteile und die Art der Verkehrsverbindungen in den Blick zu nehmen (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R = BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19, RdNr 21).

2. Im Rahmen dieser Vorgaben ist bei der Beurteilung von Einsparmöglichkeiten nach § 21 Abs 6 S 2 SGB 2 zu berücksichtigen, dass die getätigten Ausgaben im Sinne eines durch Grundsicherungsleistungen zu deckenden Bedarfs aus Sicht eines verständigen Leistungsberechtigten nicht offenkundig außer Verhältnis zu dem stehen dürfen, was einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entspricht (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R aaO, RdNr 23).

3. Bei Umgangskosten in Höhe von mehr als der Hälfte des durchschnittlichen Nettolohnes eines Arbeitnehmers in Deutschland, die aus einer großen Entfernung der Wohnorte beider Elternteile resultieren, ist insbesondere auch zu prüfen, ob dem Leistungsberechtigten ein Umzug zur Verringerung der Entfernung zum Kind zuzumuten ist und ob Übernachtungsmöglichkeiten bei Verwandten bestehen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 06.12.2022; Aktenzeichen B 7 AS 17/22 BH)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 10.10.2018 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1.5.2014 bis 31.10.2014, insbesondere für die Kosten der Ausübung des Umgangsrechts, welches er mit seinen im Ausland wohnenden Kindern ausübt.

Der am 00.00.1967 geborene Kläger ist Vater von S (geb. 00.00.2008) und T (geb. 00.00.2010), welche bei der Mutter in Polen leben, ferner Vater des aus einer anderen Beziehung stammenden Sohnes U (geb. 00.00.1997), welcher wie der Kläger in Münster lebt.

Der Kläger lernte nach den Feststellungen in dem familiengerichtlichen Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 5.3.2013 (39 F 41/13) seine Frau über das Internet kennen und heiratete diese am 17.2.2007. Diese hatte ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis in einem polnischen staatlichen Ingenieurbüro; ihr Erziehungsurlaub endete im Sommer 2013. Nach den Ausführungen des Familiengerichtes bestand zur Zeit der Geburt des Kindes S die Vereinbarung, dass man nach fünf Jahren in Deutschland gemeinsam nach Polen ziehe. In der Folgezeit kam es zu erheblichen Spannungen, die Kindesmutter hielt sich immer wieder für lange Zeit in Polen auf, so etwa das gesamte Jahr 2010 (in welchem die Tochter T geboren wurde). Im Juni 2011 kam es zur Trennung.

Im September 2013 trafen der Kläger und seine Frau eine Vereinbarung über einen begleiteten Umgang des Klägers mit den Kindern in den Räumen der Diakonie. Zu diesem Zeitpunkt war bereits absehbar, dass die Frau des Klägers nach Polen ausreisen würde, denn in dem Beschluss heißt es: "Die Kindeseltern sind sich darüber einig, dass die begleiteten Kontakte solange stattfinden sollen, mindestens vier Mal, solange die Kindesmutter sich noch mit den Kindern in Deutschland aufhält." Nach einem Bericht des Kommunalen Sozialdienstes plante sie sodann ohne Kenntnis des Klägers die Abreise nach Polen für den 10.10.2013.

Am 5.6.2014 erging in Polen ein familiengerichtlicher Beschluss, mit welchem bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens festgestellt wurde, dass der Kläger das Recht habe, Umgangskontakte mit seinen beiden Kindern jeden zweiten und vierten Samstag des Monats für zwei Stunden in Anwesenheit der Mutter der Kinder sowie eines Umgangspflegers auszuüben, wobei der Kläger verpflichtet wurde, eine individuelle Therapie und eine gemeinsame psychologische Therapie mit der Kindesmutter aufzunehmen und die mit der Anwesenheit des Umgangspflegers verbundenen Kosten zu tragen. Am 1.8.2014 fand ein familiengerichtliche Hauptsachetermin in Polen statt. Die Beteiligten des dortigen Verfahrens schlossen einen Vergleich, nach welchem der Kläger das Recht hatte, sich mit den Kindern an jedem zweiten und vierten Samstag an einem öffentlichen Ort in Anwesenheit der Kindesmutter zu treffen. Vom 1.8.2014 bis zum 31.10.2014 sollte noch der sogenannte "Kurator" dabei sein. Das Umgangsrecht bestand zunächst für zwei Stunden ab dem 1.11.2014 ohne Anwesenheit des Kurators für dr...

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