Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragspflicht. Versicherungsfreiheit. Geringfügigkeit. Nachforderung. Sozialversicherungsbeiträge. Vertrauensschutz. Zuflussprinzip. Entstehungsprinzip
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis liegt nicht vor, wenn zwar vertraglich ein unter der Entgeltgrenze des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV liegender Stundenlohn vereinbart war, jedoch aufgrund des tarifvertraglich geschuldeten Entgelts diese Grenze überschritten wird.
2. Die Frage des Vertrauensschutzes könnte sich nur stellen, wenn dem Arbeitgeber bekannt war, dass kollektivvertraglich ein höheres als das individualvertraglich vereinbarte und tatsächlich gezahlte Entgelt geschuldet wurde.
3. Vertrauensschutz muss jedenfalls dann verneint werden, wenn das Verhalten des Vertrauensschutz beanspruchenden Schuldners sich als Verstoß gegen die Rechtsordnung darstellt. Dies ist der Fall, wenn der Arbeitgeber die geltenden tarifvertraglichen Regelungen verletzt.
Normenkette
SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 7 S. 1; SGB VI § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 5 Abs. 2 Nr. 1; SGB XI § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1; SGB III § 25 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; SGB IV §§ 8, 28e Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 02.11.2001 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen aufgrund tarifvertraglich geschuldeten, aber nicht gezahlten Arbeitsentgelts.
Die Klägerin betreibt unter der Firma R … S … einen Versandhandel mit Sportbögen und Sportbogenzubehör in D … Die Beigeladene zu 3) war als gewerbliche Arbeitnehmerin (Befiederin) vom 01.08.1999 bis 31.12.1999 sowie im Januar und März 2000 bei der Klägerin beschäftigt. Die Beigeladene zu 4) war als Packerin vom 28.06.1999 bis 31.01.2000 sowie im März 2000 beschäftigt. Schriftliche Arbeitsverträge bestanden nicht, mündlich war ein Stundenlohn von 10,-- DM vereinbart. Die Beschäftigung wurde regelmäßig weniger als 15 Stunden pro Woche ausgeübt. Beide Beigeladene wurden aufgrund der Entgelthöhe als geringfügig Beschäftigte angesehen und es wurden die Pauschalbeiträge zur Kranken- und Rentenversicherung abgeführt.
In dem hier streitbefangenen Zeitraum waren im Bereich des Einzelhandels in Nordrhein-Westfalen folgende Tarifverträge allgemeinverbindlich: Manteltarifvertrag (MTV) vom 20.09.1996, gültig ab 01.11.1996; Tarifvertrag (TV) über Sonderzahlungen (Urlaubsgeld und Sonderzuwendung) vom 20.09.1996, gültig ab 01.01.1997, Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) beider TV durch Bekanntmachung vom 10.03.1997, BAnz Nr. 55 vom 04.04.1997, Seite 4 478; TV zur Änderung und Ergänzung des TV über Sonderzahlungen vom 28.11.1997, Gehalts- sowie Lohn-TV jeweils vom 28.11.1997, gültig vom 01.04.1997 bis 31.03.1998, AVE vom 30.03.1998 mit Wirkung vom 28.11.1997 bzw. 01.04.1997 (BAnz Nr. 79 vom 28.04.1998, Seite 06 182); Gehalts-TV und Lohn-TV vom 29.06.1998, jeweils gültig ab 01.04.1998, AVE vom 29.09.1998 mit Wirkung vom 01.04.1998 (BAnz Nr. 197 vom 21.10.1998, Seite 15 215); Gehalts-TV und Lohn-TV vom 07.08.1999, gültig ab 01.04.1999, AVE vom 18.11.1999 mit Wirkung vom 01.04.1999 (BAnz Nr. 2041 vom 18.11.1999, Seite 20 320). Der Geltungsbereich der Tarifverträge erstreckte sich auf alle Unternehmen des Einzelhandels im Land Nordrhein-Westfalen; sie galten für alle Arbeitnehmer in diesen Unternehmen, deren Beschäftigungsort in Nordrhein-Westfalen lag.
Aufgrund einer im ersten Halbjahr 2000 durchgeführten Betriebsprüfung für den Zeitraum Dezember 1995 bis Mai 2000 forderte die Beklagte mit Bescheid vom 04.08.2000 Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagebeiträge in Höhe von 5.981,01 DM, abzüglich der gezahlten Pauschalbeiträge von 1.594,79 DM. Soweit der Bescheid einen weiteren Arbeitnehmer betrifft, ist er bestandskräftig geworden; der auf die Beschäftigung der Beigeladenen zu 3) und 4) entfallende Beitragsanteil beträgt 3.580,12 DM (1.830,48 Euro).
Auf der Grundlage der Stundennachweise und unter Zugrundelegung der sich aus den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen ergebenden Stundenlöhnen von 16,93 DM bzw. (einschließlich anteiligem Urlaubsgeld) 17,90 DM bejahte die Beklagte hinsichtlich der Beigeladenen zu 3) Versicherungspflicht für den Zeitraum vom 01.08. bis 31.12.1999 und setzte insoweit Gesamtsozialversicherungsbeiträge fest. Für die Monate Januar und März 2000 forderte sie Pauschalbeiträge nach der Differenz zwischen dem gezahlten und tariflichen Stundenlohn. Hinsichtlich der Beigeladenen zu 4) nahm sie bei gleicher Lohnhöhe Versicherungspflicht vom 28.06.1999 bis 31.01.2000 an und setzte Gesamtsozialversicherungsbeiträge fest; für den Monat März 2000 berechnete sie Pauschalbeiträge nach dem tariflichen Stundenlohn. Zur Begründung führte sie aus, aufgrund der AVE der einschlägigen TV seien für die Betroffenen Ansprüche auf den Tariflohn entstande...