Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenerstattung. Katheterisierung der Blase während des Kindergartenbesuchs. Behandlungspflege iR der häuslichen Krankenpflege. Pflegeversicherung. krankheitsspezifische Pflegemaßnahme. Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Verstoß gegen höherrangiges Recht. Fremdkatheterisierung
Orientierungssatz
1. Die vertragsärztlich verordnete einmal tägliche Katheterisierung ist eine Maßnahme der Behandlungspflege. Hierzu zählen alle Pflegemaßnahmen, die durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, eines der Behandlungsziele des § 27 Abs 1 S 1 SGB 5 zu erreichen (vgl ua BSG vom 19.2.1998 - B 3 P 3/97 R = BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2).
2. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege ist räumlich nicht auf den Haushalt des Versicherten oder den seiner Familie beschränkt.
3. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege für die Einmalkatheterisierung eines unter neurogener Blasenentleerungsstörung leitenden Kindes während des Kindergartenbesuchs ist nicht nach § 37 Abs 3 SGB 5 ausgeschlossen, denn die Übernahme der Pflege während des Kindergartenbesuchs durch die Eltern war nicht zumutbar.
4. Die Notwendigkeit (§ 12 Abs 1 SGB 5) der Einmalkatheterisierung im Kindergarten kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass die Katheterisierung bei der Grundpflege im Rahmen der Pflegeversicherung berücksichtigt worden ist, so dass insoweit die alleinige Leistungspflicht der Pflegekasse besteht. Zwar soll nach dem Urteil des BSG vom 30.10.2001 - B 3 KR 2/01 R = SozR 3-2500 § 37 Nr 3) grundsätzlich in dieselbe Maßnahme betreffender Anspruch auf häusliche Krankenpflege entfallen, wenn die krankheitsspezifische Pflegemaßnahme zum Grundpflegebedarf nach § 14 Abs 4 SGB 11 zu zähen ist, weil sie entweder untrennbarer Bestandteil einer Katalogverrichtung ist oder mit einer solchen Verrichtung objektiv notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang steht. Die Voraussetzungen für die Einbeziehung der Katheterisierung zum Grundpflegebedarf liegen vor, weil diese mit der Katalogverrichtung "Blasenentleerung" untrennbar verbunden ist (vgl BSG vom 12.8.2001 - B 3 KR 23/00 R = USK 2001, 84). Der Senat hält an seiner Auffassung fest, dass für eine Maßnahme der Behandlungspflege die Notwendigkeit iS des § 12 Abs 1 SGB 5 dann verneint werden kann, wenn die Berücksichtigung dieser Maßnahme bei der Grundpflege zu einer höheren Pflegestufe führt.
5.Die Möglichkeit einer Fremdkatheterisierung durch Angehörige ist kein Grund, generell die Einmalkatheterisierung als verordnungsfähige Maßnahme auszuschließen.
6. Der völlige Ausschluss der Einmalkatheterisierung in der Krankenpflege-RL ist mit dem in §§ 27 Abs 1 S 1, 37 Abs 2 SGB 5 verbürgten Anspruch auf Krankenbehandlung unter Einschluss häuslicher Krankenpflege unvereinbar und damit unbeachtlich.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 30.03.2004 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte den Eltern der Klägerin einen Betrag von 590,70 Euro zu erstatten hat. Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer täglichen Katheterisierung der Klägerin während ihres Besuchs eines Kindergartens.
Bei der 1997 geborenen Klägerin besteht eine angeborene lumbale Spina bifida (angeborene Spaltbildung an einem Teil der Wirbelsäule), die u.a. eine neurogene Blasenentleerungsstörung zur Folge hat. Seit November 2000 erfolgt die Blasenentleerung durch vier- bis fünfmal tägliche Katheterisierung, die im häuslichen Bereich von den Eltern der Klägerin vorgenommen wurde. Bis zum 31.03.2003 war die Klägerin über ihren Vater bei der Beklagten familienversichert.
Die Klägerin erhielt im streitigen Zeitraum (Oktober bis Dezember 2002) Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I. In dem Pflegegutachten vom 18.09.2002 war ein krankheitsbedingter Mehraufwand bei der Grundpflege gegenüber einem gesunden altersgleichen Kind im Umfang von 105 Minuten täglich festgestellt worden. Das Katheterisieren wurde bei der Verrichtung "Blasenentleerung" im Umfang von 20 Minuten täglich bei der Grundpflege berücksichtigt.
Seit Sommer 2001 besuchte die Klägerin einen integrativen Kindergarten, der etwa 5 km von der Familienwohnung entfernt liegt. Sie wurde dort einmal täglich durch einen Pflegedienst katheterisiert. Die Beklagte übernahm aufgrund entsprechender ärztlicher Verordnungen seit dem 01.08.2001 diese Leistungen im Umfang von einmal täglich/fünfmal wöchentlich. Zuletzt erfolgte eine Bewilligung für das 3. Quartal 2002.
Mit Schreiben vom 16.08.2002 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Einmalkatheterisierung nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zähle und daher die Leistungen schon in der Vergangenheit nicht hätte...