Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs einer Einrichtung gegen den Sozialhilfeträger bei Unterbringung eines hilfebedürftigen behinderten Menschen
Orientierungssatz
1. Nach § 104 Abs. 1 S. 1 SGB 10 ist, soweit ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB 10 vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Zu den Anspruchsberechtigten zählt u. a. der Träger der Jugendhilfe nach § 69 Abs. 1 SGB 8.
2. Die sachliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers bestimmt sich nach § 97 Abs. 1 und 2 SGB 12.
3. Ist der behinderte Hilfebedürftige nicht in stationärer Einrichtung i. S. des § 13 Abs. 2 SGB 12 untergebracht, so ist ein Erstattungsanspruch ausgeschlossen.
4. Für den Erstattungsfall ist allein maßgeblich das Vorliegen einer stationären Einrichtung im sozialhilferechtlichen Sinn. Solange der Gesetzgeber die Jugendhilfe nach dem SGB 8 von der Sozialhilfe des SGB 12 unterscheidet, ist ein Auseinanderfallen der Begrifflichkeiten im SGB 8 und SGB 12 als Teil der gesetzgeberischen Konzeption hinzunehmen.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11.05.2017 abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 181.231,38 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Erstattung von ihr im Leistungsfall P T (nachfolgend: Hilfeempfänger) geleisteter Hilfe im Zeitraum vom 01.12.2011 bis zum 31.07.2014 in Höhe von insgesamt 181.231,38 EUR.
Der Hilfeempfänger wurde am 00.00.1994 geboren. Er leidet unter einer Störung des Sozialverhaltens aufgrund von Vernachlässigung und Missbrauch im Kleinkindalter mit Deprivationstendenzen und einer kombinierten Entwicklungsstörung. Seit seiner Volljährigkeit steht er unter rechtlicher Betreuung. Eine geistige Behinderung besteht bei ihm nicht. Ein Intelligenztest im Jahre 2011 ergab einen Gesamt-IQ von 93. Darüber hinaus wurde bei dem Hilfeempfänger im Jahre 2006 erstmals ein Diabetes mellitus Typ 1 diagnostiziert. Nach einem ärztlichen Gutachten der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Kliniken der Stadt Köln vom 08.12.2008 kam es beim Hilfeempfänger seit Dezember 2007 wiederholt zu lebensbedrohlichen Ketoazidosen (Entgleisungen des Diabetes im Sinne einer längere Zeit unbehandelten Blutzuckererhöhung, die zu einer Dekompensation des Stoffwechsels führt). Der Hilfeempfänger wurde deshalb im Zeitraum von Dezember 2007 bis Dezember 2008 insgesamt 6mal stationär behandelt. Er war nicht in der Lage, die vitale Bedrohung durch den Diabetes mellitus einzuschätzen.
Das Versorgungsamt Aachen stellte beim Hilfeempfänger mit Bescheid vom 17.10.2006 einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 fest. Aus der versorgungsärztlichen Stellungnahme ergibt sich, dass das Versorgungsamt bei Bildung des Gesamtgrades der Behinderung den Diabetes mellitus mit einem Einzel-Grad der Behinderung von 50 und die Entwicklungsverzögerung mit einem Einzel-GdB von 30 berücksichtigte.
Der Hilfeempfänger lebte bis Juli 1997 im Haushalt seiner Mutter in Wesseling. Sodann war er vom 28.07.1997 bis zum 26.01.2000 zu Lasten der Klägerin als örtlicher Jugendhilfeträgerin im Kinderheim K in Köln untergebracht. Vom 26.01.2000 bis zum 19.12.2002 lebte er in der Pflegefamilie C in Bergheim, die hierfür Pflegegeld von der Klägerin bezog. Am 19.12.2002 zog er von der Pflegefamilie in das I-Haus in Kall-Urft, einer stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung mit einer privaten Förderschule für soziale und emotionale Entwicklung. Die Kosten auch für diese Unterbringung wurden von der Klägerin auf der Grundlage von § 34 SGB VIII (Heimerziehung) übernommen.
Zum 04.09.2006 zog der Hilfeempfänger vom I-Haus in das Einfamilienhaus von Frau E L (seinerzeit J) um, wo er von dieser betreut wurde. Der Umzug erfolgte, weil die beteiligten Stellen zu der Auffassung gelangt waren, dass der Hilfeempfänger in der Gruppe im I-Haus nicht mehr adäquat betreut werden könne und von ihm aufgrund seines sexualisierten Verhaltens eine Gefahr für andere Kinder ausginge. Frau L ist staatlich anerkannte Erzieherin, staatlich anerkannte Sozialarbeitern und staatlich anerkannte Sozialpädagogin. Von 2002 bis 2006 arbeitete sie in einer Intensivgruppe des I-Hauses. Im Jahr 2006 gründete sie ein "individualpädagogisches Standprojekt" für Kinder mit einem gestörten Bindungsverhalten, mangelndem Selbstvertrauen, Formen der Selbst- und Fremdgefährdung und Perspektivlosigkeit. Träger dieses sog. Standprojektes war zunächst das I-Haus, in welchem Frau L zunächst beschäftigt blieb. Der Hilfeempfänger war im gesamten Zeitraum das einzige bei Frau L unterg...