Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen einer rechtswirksamen fiktiven Klagerücknahme

 

Orientierungssatz

1. Die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG beendet den Rechtstreit nur dann, wenn zuvor dem Kläger vom Gericht eine wirksame Betreibensaufforderung zugegangen ist.

2. Sie tritt nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG nur ein, wenn das Gericht von einem Wegfall des Rechtschutzinteresses auf Seiten des Klägers ausgehen durfte.

3. Hat sich der Kläger bzw. dessen Bevollmächtigter vor Fristablauf an das Sozialgericht gewandt, das Verfahren solle weitergeführt werden, unter Hinweis auf beim Beklagten eingereichte Unterlagen, so gilt das Verfahren mangels Erfüllung der Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme als nicht beendet.

4. Auf die Berufung des Klägers stellt das Landessozialgericht fest, dass der Rechtstreit nicht durch Klagerücknahme beendet worden ist. Das Ausgangsverfahren bleibt beim Sozialgericht anhängig.

 

Tenor

Auf die Berufung der Kläger wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 20.6.2018 aufgehoben und festgestellt, dass der Rechtsstreit S 5 AS 737/16 nicht durch Klagerücknahme beendet worden ist. Die Kostenentscheidung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren die Fortsetzung des Verfahrens vor dem Sozialgericht Münster und wenden sich gegen die Feststellung der fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG.

Streitig ist in dem sozialgerichtlichen Klageverfahren die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für den Monat Januar 2016. Der Beklagte lehnte Leistungen für diesen Monat mit der Begründung ab, die Kläger hätten verspätet, nämlich erst im Februar 2016, einen Leistungsantrag gestellt.

Mit Schreiben vom 18.2.2016 wies der Bevollmächtigte der Kläger darauf hin, dass der Fortzahlungsantrag rechtzeitig Ende November oder Anfang Dezember 2015 in den Briefkasten der Stadt S eingeworfen worden sei. Dies könne ein Zeuge bestätigen, welcher die Klägerin mit seinem Auto zu dem Briefkasten gefahren habe. Vorsorglich beantragte der Bevollmächtigte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 9.6.2016 ab; in der Sache lehnte er auch einen Leistungsanspruch für Januar 2016 ab. Den dagegen gerichteten Widerspruch vom 14.6.2016 wies der Beklagte mit an den Bevollmächtigten adressierten Widerspruchsbescheid vom 15.9.2016 als unbegründet zurück. Am 21.10.2016 erhob er im Namen der Kläger bei dem Sozialgericht Münster Klage.

Mit Richterbrief vom 15.11.2016 nahm das Gericht auf eine eidesstattliche Versicherung der Klägerin vom 18.2.2016 Bezug, wonach ein Zeuge den Einwurf von Unterlagen in einem großen Umschlag bestätigen könne. Es wurde angefragt, um welche Unterlagen es sich dabei handele, ob der Zeuge gesehen habe, was in dem Umschlag war oder ob er nur gesehen habe, dass ein Umschlag eingeworfen worden sei. Es wurde zur Mitteilung der ladungsfähigen Anschrift aufgefordert. Mit Schreiben vom 21.4.2017 erinnerte das Gericht an diese Verfügung.

Daraufhin wies der Klägerbevollmächtigte im August 2017 darauf hin, dass kein Kontakt zur Klägerin bestehe. Mit Schreiben vom 02.10.2017 wies das Sozialgericht daraufhin, dass aufgrund der Tatsache, dass noch immer kein Kontakt zur Klägerin habe hergestellt werden können, davon auszugehen sei, dass diese an der weiteren Durchführung des Rechtsstreites nicht interessiert sei. Dann sei das Rechtsschutzinteresse als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage entfallen. Der Klägerin wurde aufgegeben, die gerichtlichen Schreiben vom 15.11.2016 und 21.4.2017 vollständig zu beantworten. Zudem erfolgte der Hinweis, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, wenn diese das Verfahren länger als drei Monate nach Zugang dieser Aufforderung nicht betreibe. Das gerichtliche Schreiben vom 02.10.2017 wurde dem Klägerbevollmächtigten nach dessen Empfangsbekenntnissen am 10.10.2017 oder 11.10.2017 zugestellt.

Am 2.1.2018 schrieb der Klägerbevollmächtigte, dass das Verfahren weitergeführt werden solle. Die Klägerin habe unstreitig zum Ende des Jahres 2015 Unterlagen bei der Beklagten eingereicht. Es müsse daher eine konkludente Beantragung der Weiterbewilligung von Sozialleistungen in Betracht gezogen werden.

Mit Verfügung vom 15.1.2018 hat das Sozialgericht Münster die Klage ausgetragen und den Beteiligten mitgeteilt, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte. Die gerichtlichen Verfügungen vom 15.11.2016 und 21.4.2017 seien weiterhin nicht erledigt worden. Am 21.2.2018 beantragte der Klägerbevollmächtigte, das Verfahren fortzusetzen. Nach seiner Rechtsauffassung lägen die Voraussetzungen für die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht vor. Mit seinem Schriftsatz vom 2.1.2018 habe er hinreichend deutlich gemacht, dass das Verfahren weiterbetrieben werden sollte.

Das Verfahren wurde unter dem Az. S 5 AS 143/18 neu eingetragen und nach Anhörung mit Gerichtsbescheid vom 20.6.2018 festgestellt, dass der Rech...

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