Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität. Anwendbarkeit des EuFürsAbk auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Vorbehaltserklärung vom 19.12.2011
Leitsatz (amtlich)
1. Der aus § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 folgende Ausschluss von EU-Bürgern, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, von den Leistungen nach dem SGB 2 verstößt nicht gegen das in Art 4 EGV 883/2004 geregelte Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf Leistungen der sozialen Sicherheit. EU-Bürger, die bereits eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt aufgebaut haben, dürfen nicht von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 ausgeschlossen werden, weil sie sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten.
2. Bei den Leistungen nach dem SGB 2 zur Sicherung des Lebensunterhalts erwerbsfähiger Hilfebedürftiger handelt es sich nicht um Sozialhilfe iS des Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004.
3. Zur Frage der Wirksamkeit des Vorbehalts der Bundesregierung gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2.
Tenor
1. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Trier vom 14.05.2012 wird zurückgewiesen.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsgegner und Beschwerdeführer wendet sich gegen eine einstweilige Anordnung, mit der das Sozialgericht (SG) Trier ihn zur vorläufigen Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) an den Antragsteller verpflichtet hat.
Der 1955 geborene Antragsteller ist luxemburgischer Staatsangehöriger. Er wohnt seit dem 01.03.2011 zusammen mit seinem 1989 geborenen Sohn in einer 75 m² großen Wohnung in Roth an der Our. Die Kaltmiete beträgt 500,00 €, für die Betriebskosten sind monatlich 50,00 € zu zahlen. Die Heizung wird mit Strom betrieben. Am 16.08.2011 stellte der Antragsteller erstmals einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen. Er gab dabei an, er habe von 2006 bis 2009 in Luxemburg an einer Reha-Maßnahme teilgenommen, später gab er in einer schriftlichen Erklärung vom 28.08.2011 an, er sei 15 Monate in einer Klinik gewesen. Er sei noch immer gesundheitlich beeinträchtigt durch eine Borreliose. Er habe "Probleme mit der Luft." In den Monaten vor der Antragstellung habe er von "Sozialhilfe von Luxemburg und Selbstverdienen" gelebt. Auf die Nachfrage des Senats, ob er in Deutschland gearbeitet habe, hat der Antragsteller keine Angaben gemacht. Der Antragsteller verfügt nicht über eine Bescheinigung der Ausländerbehörde gem § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - FreizügG/EU -. Sein Sohn hat dem Antragsgegner in einem Gespräch vom 05.04.2012 ohne Nennung von Gründen mitgeteilt, sein Vater erhalte keine Freizügigkeitsbescheinigung. Auf Nachfrage des Senats hat der Antragsteller zunächst angegeben, ihm sei zunächst eine bis zum 31.01.2012 befristete Freizügigkeitsbescheinigung ausgestellt worden. Mehrere Mitarbeiter der Ausländerbehörde hätten ihm mitgeteilt, er könne keine neue Freizügigkeitsbescheinigung erhalten, weil er noch nicht in Deutschland gearbeitet habe. Die Ausländerbehörde habe seiner Bevollmächtigten mitgeteilt, die Ausstellung einer befristeten Freizügigkeitsbescheinigung sei aus den Eintragungen im EDV-System nicht ersichtlich. Eine Freizügigkeitsbescheinigung sei nicht ausgestellt worden, weil der Antragsteller keinen gültigen Pass habe vorlegen können. Der Antragsteller werde eine unbefristete Freizügigkeitsbescheinigung erhalten, wenn er einen gültigen Pass und eine Bestätigung der Agentur für Arbeit oder des Jobcenters vorlege, dass er arbeitsuchend gemeldet sei.
Der Antragsgegner gewährte dem Antragsteller mit Bescheid vom 27.10.2011, geändert durch Bescheid vom 19.04.2012, Leistungen für die Zeit vom 01.08.2011 bis zum 31.01.2012. Dabei wurden 550,00 € Unterkunftskosten (KdU) berücksichtigt. Mit Schreiben vom 27.10.2011 wurde der Antragsteller zur Senkung der KdU aufgefordert.
Den am 10.01.2012 gestellten Fortzahlungsantrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 20.04.2012 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Bundesrepublik Deutschland habe mit Wirkung vom 19.12.2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) erklärt. Da der Antragsteller keine Freizügigkeitsbescheinigung besitze, sei er nicht leistungsberechtigt iSd § 7 SGB II.
Hiergegen hat der Antragsteller am 04.05.2012 Widerspruch erhoben und am 03.05.2012 beim SG einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Das SG hat durch Beschluss vom 14.05.2012 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Monate Mai bis Juli 2012, längstens bis zur Bestandskraft des...