Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. vorrangige Sozialleistungen. Aufforderung zur Beantragung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB 12. keine Anwendbarkeit von § 12a SGB 2. fehlende Erwerbsfähigkeit iS von § 8 Abs 1 SGB 2
Leitsatz (amtlich)
1. § 12a SGB II findet bei einer fehlenden Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 8 Abs 1 SGB 2 keine Anwendung.
2. Da Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nicht in einem Nachrangverhältnis zu den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung des Vierten Kapitels des SGB XII stehen, ist § 12a SGB II hierauf nicht anwendbar.
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 25. November 2019 sowie der Bescheid vom 27. August 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. September 2018 aufgehoben.
2. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Aufforderung nach § 12a Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zur Beantragung von Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII).
Die 1966 geborene Klägerin steht langjährig im Bezug von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II bei dem Beklagten, jedenfalls durchgängig von August 2018 bis derzeit Juli 2021 (August 2018 bis Januar 2019: Bewilligungsbescheid vom 22. August 2018 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 24. November 2018, 14. Dezember 2018 und 6. Februar 2019; Februar 2019 bis Juli 2019: Bewilligungsbescheid vom 14. Dezember 2018 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 19. März 2019 und 29. März 2019; August 2019 bis Januar 2020 Bewilligungsbescheid vom 31. Juli 2019 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 23. November 2019 und 27. November 2019; Februar 2020 bis Juli 2020; Bescheid vom 10. Dezember 2019; August 2020 bis Juli 2021: Bescheid vom 14. Juni 2020).
Die Deutsche Rentenversicherung Rheinland-Pfalz lehnte den Antrag der Klägerin auf Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Bescheid vom 3. Juli 2018 ab, weil die Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllte.
Aufgrund eines Antikörpermangelsyndroms, eines Erschöpfungssyndroms sowie Gelenk- und Muskelschmerzen war die Klägerin jedenfalls ab dem 4. Juni 2018 täglich weniger als drei Stunden und wöchentlich unter 15 Stunden erwerbsfähig. Zu diesem Zeitpunkt war die Leistungsfähigkeit der Klägerin voraussichtlich über sechs Monate auf dieses Maß reduziert. Hierüber erhielt der Beklagte aus einem für ihn erstellten amtsärztlichen Gutachten von Dr. A vom 4. Juni 2018 Kenntnis. Zudem stellte die Deutschen Rentenversicherung ebenso eine dauerhafte volle Erwerbsminderung der Klägerin (beginnend ab dem 22. Januar 2018) fest. Hiervon erfuhr der Beklagte (vor dem 27. August 2018) durch die informatorische Übersendung der Aufforderung der Stadtverwaltung Koblenz - Amt für Jugend, Familie, Senioren und Soziales - an die Klägerin vom 8. August 2018 einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII einzureichen. Darin ging die Stadtverwaltung Koblenz basierend auf der Einschätzung der Deutschen Rentenversicherung von einer dauerhaften, vollen Erwerbsminderung der Klägerin zumindest seit dem 22. Januar 2018 aus sowie - sofern die anderen Voraussetzungen erfüllt seien - von einem Anspruch der Klägerin auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel SGB XII.
Mit Bescheid vom 27. August 2018 forderte der Beklagte die Klägerin unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls zur Beantragung vorrangiger Grundsicherungsleistungen bei der Stadtverwaltung Koblenz auf. Hierzu sei die Klägerin nach § 12a SGB II verpflichtet, weil der Anspruch auf Grundsicherung den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II verringern oder ganz ausschließen könne. Er wies auf die Berechtigung nach § 5 Abs. 3 SGB II hin, den Antrag ersatzweise für die Klägerin zu stellen.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, da sie sich nicht für voll erwerbsgemindert hielt. Sie wiederholte zudem ihre bereits zuvor geäußerte Ablehnung, einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII zu stellen bzw. Leistungen nach dem SGB XII zu beziehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 4. September 2018 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Da die Klägerin voraussichtlich auf Dauer weniger als drei Stunden täglich arbeiten könne, sei sie nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II. Mangels Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nach dem SGB II sei die Klägerin aufzufordern gewesen, Leistungen zur Grundsicherung bei der Stadtverwaltung Koblenz zu beantragen.
Mit Schreiben vom 16. Mai 2019 beantragte der Beklagte bei der Stadtverwaltung Koblenz für die Klägerin Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII und machte einen Erstattungsanspruch geltend.
In der am 7. September...