Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Rollstuhlzuggerät mit elektrisch unterstütztem Handkurbelantrieb. aktive Fortbewegung

 

Orientierungssatz

1. Zum Anspruch eines Versicherten auf Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät mit elektrisch unterstütztem Handkurbelantrieb.

2. Ein Versicherter, der seine körperliche Restaktivität unter Aktivierung der Restkraft von Rumpf, Schultern und Armen zur selbständigen Mobilität nutzen möchte, kann nicht auf die Passivität der Nutzung eines rein elektrisch angetriebenen Hilfsmittels verwiesen werden.

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 07.06.2022 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit einem Rollstuhlzuggerät mit elektrisch unterstütztem Handkurbelantrieb.

Der 1961 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Bei ihm bestehen eine komplette Querschnittslähmung mit spastischer Tetraplegie mit Blasen-/Mastdarmlähmung, eine gravierende Fehlstatik der Wirbelsäule, eine therapieresistente Zervikobrachialgie beidseits sowie Schulter-/Armschmerzen beidseits. Der Kläger ist mit einem Aktivrollstuhl, einem Ersatzrollstuhl, einem elektrischen Rollstuhlzuggerät (dessen zunächst umstrittene Reparatur zwischenzeitlich von der Beklagten bewilligt wurde) und einem mechanischen Handkurbelzuggerät, das er zuhause auf einer Fahrradrolle zu Trainingszwecken einsetzt, versorgt. Er erhält zweimal pro Woche Krankengymnastik als Doppeleinheit (1,5 Stunden) im Hausbesuch. Am 04.03.2020 verordnete die Gemeinschaftspraxis der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dr. C /Dr. S dem Kläger das Rollstuhlzuggerät Lipo Smart Tetra, einen Handkurbelantrieb mit elektrischer Motorunterstützung, die bis zu einer Geschwindigkeit von 25 km/h Unterstützung leistet. Die Ärzte gaben in einem Attest hierzu an, aufgrund der Lähmungen der unteren Extremitäten und konsekutiver Fehlstatik der Wirbelsäule bis hin zum Schultergürtelbereich mit Ausbildung von chronischen Belastungssyndromen der Muskulatur sei für den Kläger das Lipo Smart Tetra Rollstuhlzuggerät sinnvoll, um eine Unterstützung der Mobilität im Alltag und damit eine Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Mit Kostenvoranschlag vom 31.03.2020 beantragte die Sanitätshaus W GmbH bei der Beklagten die Versorgung des Klägers mit dem verordneten Rollstuhlzuggerät zu Kosten in Höhe von insgesamt 6.604,74 €.

Die Beklagte informierte den Kläger mit Schreiben vom 06.04.2020 über die Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). In einem Gutachten vom 20.04.2020 kamen der Arzt Dr. E und der Orthopädietechniker D zu dem Ergebnis, dass die Versorgung mit dem beantragten Hilfsmittel nicht nachvollziehbar sei. Bei Einschränkung der Eigenmobilität sei die Versorgung mit einer elektrischen Mobilitätshilfe medizinisch begründet. Alternativ sei die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl zu empfehlen. Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 27.04.2020 ab.

Zur Begründung seines Widerspruchs machte der Kläger geltend, dass ihm während eines stationären Krankenhausaufenthaltes aufgrund muskulärer Probleme in Arm, Schulter und Rücken neben Trainingseinheiten ein Rollstuhlzuggerät empfohlen worden sei, um die genannten Muskelpartien zu trainieren. Das Zuggerät sei vergleichbar mit einem E-Bike, es unterstütze die eigene Leistung. Der von der Beklagten erneut befasste MDK teilte in einem Gutachten des Arztes H und des Orthopädietechnikers Sc vom 07./08.07.2020 mit, dass für die Verordnung keine hinreichend erklärende medizinische Begründung vorliege. Die Versorgung mit sogenannten Vorspann-/Einhängefahrrädern mit Handkurbelantrieb, auch mit zusätzlicher Elektromotorunterstützung, sei im Hilfsmittelverzeichnis ausschließlich für Kinder und Jugendliche vorgesehen, nicht für Erwachsene. Die Versorgung mit einem Elektroaußenrollstuhl sei geeignet und zweckmäßig. Alternativ könne ein Rollstuhlzuggerät gemäß der Hilfsmittelnummer 18.99.04.0 ff. empfohlen werden; diese Hilfsmittel seien allesamt ohne Handkurbelantrieb, dafür mit elektrischem Motorantrieb ausgeführt. Durch Widerspruchsbescheid vom 08.10.2020 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gestützt auf das MDK-Gutachten zurück.

Der Kläger hat am 28.10.2020 Klage beim Sozialgericht (SG) Koblenz erhoben, zu der Begründung er sein Widerspruchsvorbringen wiederholt und auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 07.05.2020 - B 3 KR 7/19 R verwiesen hat. Die vorgeschlagene Versorgung mit einem reinen Elektrorollstuhl führe zu seiner vollständigen Immobilisierung und wäre seiner Gesundheit keinesfalls zuträglich.

Das SG hat eine Stellungnahme der Hausärzte des Klägers vom 22.12.2020 eingeholt, wonach das verordnete Hilfsmittel zur Erweiterung des Radius der selbstständigen Mobilität des Klägers und ...

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