Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Beiziehung eines Sachverständigengutachtens. Widerruf des Einverständnisses des Klägers zum Gutachten. Verwertbarkeit des Gutachtens. Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Folgen einer Lyme-Borreliose. Schmerzen und allgemeine Schwäche. Mitberücksichtigung im Funktionssystem Psyche. Funktionseinschränkungen. Nachteilsausgleich „RF”
Orientierungssatz
1. Widerruft der Kläger während des sozialgerichtlichen Verfahrens (hier zur Feststellung des Grads der Behinderung) sein Einverständnis zur Beiziehung eines bereits in den Prozess eingeführten Gutachtens, führt dies nicht dazu, dass das Gutachten im Prozess nicht weiter verwertet werden kann (vgl OLG München vom 16.5.2013 - 1 U 4156/12 = GesR 2013, 471).
2. Die mit den (hier als Folgen einer Lyme-Borreliose geltend gemachten) Diagnosen "Polyarthritis mit wechselnder Lokalisation", "Polyneuropathie", "chronische Monarthritis", "Encephalomyelitis" sowie "periphere Neuropathie" einhergehenden Beeinträchtigungen - Schmerzen und (allgemeine) Schwäche - sind bei der Bewertung der dem Funktionssystem Psyche zugeordneten Behinderung berücksichtigt.
3. Zur Feststellung des Grads der Behinderung (GdB) nach Teil B Nr 3.7 (Psyche) und Teil B Nr 18.9 (Wirbelsäulenschäden) der in der Anlage zu § 2 VersMedV geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätzen.
Normenkette
SGB IX § 69 Abs. 1, 3-4, § 2 Abs. 1; BVG § 30 Abs. 1, 16; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 13.09.2012 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 sowie des Vorliegens der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" - Ermäßigung des Rundfunkbeitrages -.
Der Beklagte hatte bei der im Mai 1943 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 1.8.2003 einen Grad der Behinderung von 70 sowie das Vorliegen der Vorausset-zungen des Nachteilsausgleichs "G" festgestellt. Dem hatten folgende Behinderungen zugrunde gelegen:
1. Wirbelsäulensyndrom, Kalksalzminderung, Fibromyalgiesyndrom , chronisch neuritische Schmerzen (40)
2. depressives Syndrom, psychovegetativer Erschöpfungszustand (20)
3. Schulterarthrosen beiderseits (10)
4. Hirnleistungsstörungen (50).
Im April 2006 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichen "RF". Die festgestellten Behinderungen hätten sich verschlimmert. Erstmals machte sie Herz- und Gelenkbeschwerden sowie eine Multisystemerkrankung geltend. Neben dem Änderungsantrag unterzeichnete die Klägerin eine Einverständniserklärung zur Einholung von Auskünften und Unterlagen bei den von ihr benannten Ärzten, Psychologen, Krankenanstalten, gesetzlichen und privaten Renten-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherungsträgern. Sie legte ihrem Antrag Arztbriefe der Neurologischen Klinik und Poliklinik des U F über Untersuchungen vom 25.1.2002, des Neurologen und Psychiaters Dr. R. K , L , vom 20.5.2003, 29.9.2004 und 31.1.2006, des Orthopäden Dr. B , M , vom 6.6.2003, des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. R , F , vom 25.6.2004, Teil eines Arztbriefes der Neurologischen Klinik des W vom 3.7.2003 sowie einen Auszug aus einem von dem Arzt für Innere Medizin Prof. Dr. V erstellten Gutachten bei.
Der Beklagte holte Befundberichte des Allgemeinarztes Dr. K , L , des Neurologen Dr. K , der Orthopäden Dres. H und J , F , sowie der Internisten Dres. I und S , F , ein. Beigezogen wurden außerdem ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. V /Dr. R vom 10.2.2005, sowie ein fachinternistisches und infektiologisches Gutachten des Prof. Dr. V vom 23.9.2005, beide Kliniken des M , H .
Mit Bescheid vom 4.9.2006 lehnte der Beklagte den Änderungsantrag ab. Es sei keine dauerhafte wesentliche Verschlimmerung eingetreten. Die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens “RF' lägen nicht vor, denn die Klägerin gehöre nicht zu dem berechtigten Personenkreis.
Den von der Klägerin eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.1.2007 zurück.
Am 19.2.2007 hat die Klägerin beim Sozialgericht Mainz Klage erhoben, mit der sie die Feststellung eines höheren GdB sowie den NTA “RF' begehrte. Zur Begründung hat sie vorgetragen, sie leide seit mehr als 20 Jahren an den Folgen einer zunächst nicht diagnostizierten Lyme-Borreliose. Diese stelle bereits wegen der zeitlichen Länge der Erkrankung und der daraus erwachsenen Folgen eine ernsthafte gesundheitliche Störung dar. Das Spätstadium der Borreliose umfasse bei ihr: Muskelskelettbeschwerden, Polyarthritis mit wechselnder Lokalisation, Polyneuropathie, chronische Monarthritis , chronische Encephalopathie , Encephalomyelitis , periphere Neuropathie, Ataxie, Akrodermatitis chronica atrophicans , sensomotorische Störungen beider Füße im Si...