Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden. Impfung gegen Schweinegrippe. H1N1-Virus. Guillain-Barre-Syndrom. ursächlicher Zusammenhang. Wahrscheinlichkeit. plausibles Zeitfenster. neue Studienergebnisse. Symptombeginn zwischen 1-42 Tagen nach Pandemrix-Impfung. Möglichkeit von konkurrierenden Ursachen. Kann-Versorgung
Leitsatz (amtlich)
1. Einer Anerkennung eines GBS als Impfschaden nach der sog Schweinegrippeimpfung mit dem Impfstoff Pandemrix im Rahmen der sog Kann-Versorgung kann aufgrund neuerer Studienergebnisse nicht mehr entgegengehalten werden, es liege kein plausibles Zeitfenster für den Erkrankungsbeginn (Inkubationszeit 5-42 Tage) vor.
2. Aufgrund einer neueren, im Jahr 2021 publizierten Studie, die sich konkret auf den Impfstoff Pandemrix bezieht, kann ein GBS auch bereits innerhalb der ersten 5 Tage nach einer Impfung auftreten.
3. Die der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegte Auffassung des Paul-Ehrlich-Instituts zum fehlenden plausiblen Zeitfenster basiert auf Studiendaten der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals existierten noch keine Daten zu dem erst im Jahre 2009 zugelassenen Impfstoff Pandemrix.
Orientierungssatz
1. Eine Anerkennung eines Guillain-Barre-Syndroms (GBS) - auch in Form der Miller-Fisher-Variante - als Impfschaden ist mangels geklärter Pathogenese und Ätiologie auf dem Weg über § 61 S 1 IfSG nicht möglich (so auch LSG Halle vom 30.8.2017 - L 7 VE 7/14 = MedR 2018, 108).
2. Eine lediglich mögliche konkurrierende Ursache, für die der Vollbeweis nicht geführt ist, kann im Rahmen der Kann-Versorgung der Anerkennung eines Impfschadens nicht entgegengehalten werden.
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 26.03.2018 und der Bescheid des Beklagten vom 10.06.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2014 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, bei dem Kläger die Gesundheitsstörungen partielle Abduzensparese bei Zustand nach Miller- Fischer-Syndrom und Bickerstaff-Enzephalitis als Impfschäden anzuerkennen und ihm Versorgungsleistungen ab Antragstellung zu gewähren.
2. Die außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Impffolgeschäden nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und über die Gewährung von Entschädigungsleistungen.
Bei dem im Jahr 1961 geborenen Kläger erfolgte am 06.11.2009 eine Impfung mit den Impfstoffen Influsplit SWW gegen saisonale Grippe und dem Impfstoff Pandemrix A 81 CA061 A gegen Influenza H1N1 (Schweinegrippe) durch seinen Hausarzt Dr. W . Zuvor war der Kläger am 26./27.10.2009 wegen Laryngitis arbeitsunfähig erkrankt. Zwei Tage nach der Impfung kam es zu einer Schwindelsymptomatik, vier Tage später zeigten sich ausgeprägte neurologische Ausfallerscheinungen.
Im Juli 2010 beantragte der Kläger, vertreten durch seine Ehefrau und Betreuerin, die Gewährung von Versorgung nach § 60 IfSG. Zur Begründung machte er geltend, vier Tage nach der Impfung hätten sich erstmals Krankheitserscheinungen bemerkbar gemacht. Er leide an einem Guillain-Barré-Syndrom (GBS) bzw. Miller-Fisher-Syndrom (MFS). Diese Gesundheitsstörungen seien Folge der Impfung vom 06.11.2009.
Ausweislich des vorläufigen Berichts des Klinikums L vom 25.11.2009 über die stationäre Behandlung des Klägers ab dem 10.11.2009 wurde zunächst ein MFS mit Übergang in ein GBS diagnostiziert. Es bestehe des Weiteren ein Z.n. Impfung gegen Influenza und H1N1-Influenza am 06.11.2009 sowie ein Z.n. Pharyngitis eine Woche vor Infekt mit Nachweis von Haemophilus im Bronchialsekret. Darüber hinaus bestehe nach dem CRF (Case Report Form = Erhebungsbogen) eine arterielle Hypertonie und ein Nikotinabusus, ein Verdacht auf Aspirationspneumonie, ein Zustand nach Tracheotomie (dilatativ) am 16.11.2009, ein Enzephalopathiesignal im Ponsbereich (Bickerstaff-Enzephalopathie) bei MFS sowie eine Plasmapherese. Im Bericht wurde festgehalten, dass seit zwei Tagen vor Aufnahme Drehschwindel bestehen würde. Am 10.11.2009 seien ein Taubheitsgefühl am gesamten Körper und Nackenschmerzen aufgetreten, außerdem eine Ataxie und eine Ptosis. Im weiteren Verlauf sei eine Dyspnoe aufgetreten, die Sprachproduktion sei wegen zunehmender Schwäche nicht mehr möglich gewesen, der Würgereflex sei erloschen, eine rechtsbetone Tetraparese sei aufgetreten und der Muskeleigenreflex (MER) sei rechts abgeschwächt gewesen. Aufgrund der klinisch festgestellten Tetraparese und den ausgefallenen Muskeleigenreflexen und des Verlaufs sei weiterhin von einem GBS auszugehen.
In einem weiteren Bericht der Neurologischen Klinik des Klinikums L vom 22.12.2009 zur stationären Behandlung des Klägers auf der Neurologischen Station (Schlaganfall- und Überwachungsstation) in der Zeit vom 21.12.2009 bis 28.12.2009 wurde ausgeführt, dass der Kläger an einer Variante des MFS mit Hirnstammenzephalitis leide. Der k...