Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Stalking. GdS-Feststellung. Anteil der Gewalttat. Vorschaden. Zweifel

 

Orientierungssatz

1. Hat das nach der Gewalttat erfolgte Stalking des Täters das Opfer stärker belastet als die Gewalttat selbst, ist die infolge des Stalkings eingetretene Verschlimmerung des Gesundheitszustands bei der Feststellung des Grads der Schädigungsfolgen (GdS) nicht zu berücksichtigen, wenn es sich dabei nicht um Gewalttaten im Sinne des § 1 Abs 1 S 1 OEG gehandelt hat (hier: Bedrohung, Vermögensdelikte, Falschinformationen im Internet und Verleumdungen).

2. Zwar geht das Bestehen von Zweifeln, ob schon vor der Gewalttat Krankheitssymptome vorhanden waren oder ob andere Ursachen die Krankheit herbeigeführt haben, grundsätzlich nicht zu Lasten des Opfers (vgl BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 = BSGE 77, 1 = SozR 3-3800 § 1 Nr 4). Insoweit muss das vorherige Vorhandensein von Krankheitssymptomen allerdings zweifelhaft sein, darf also nicht (wie hier) feststehen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 11.03.2016; Aktenzeichen B 9 V 3/16 B)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 10.10.2014 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die Klägerin wurde am 09.03.2008 durch den S J S (S) verletzt. Die Klägerin lebte mit S zusammen, wollte sich an diesem Tag aber von ihm trennen. Nach einer gemeinsamen Fahrt im Auto, bei der die Klägerin den S und dessen Sachen zu seiner neuen Wohnung gebracht hatte, zog S aus seiner Jackentasche ein Messer hervor mit den Worten “ich bring dich jetzt um, ich stech dich jetzt ab„. Danach stach er mit dem Messer in Richtung des Oberkörpers der Klägerin, die allerdings ihre rechte Hand nach oben zur Abwehr empor riss. Dadurch stieß der S mit dem Messer durch die rechte Hand der Klägerin von der rechten Außenseite bis zur Mittelhand. Am kleinen Finger der Klägerin wurden die Sehnen und eine Arterie durchtrennt. Der Klägerin gelang es zu fliehen. S wurde wegen dieser und einer weiteren Tat durch das Landgericht Koblenz mit Urteil vom 29.03.2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt.

Im April 2008 beantragte die Klägerin Versorgung nach dem OEG wegen der Folgen der Stichverletzung und einer psychischen Störung aufgrund der Gewalttat. Das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Koblenz bei und holte einen Befundbericht des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W ein. Dieser legte weitere Befundunterlagen vor und teilte mit, er behandele die Klägerin wegen einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, die weitgehend therapieresistent sei. Sodann ließ der Beklagte die Klägerin durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. begutachten. Dieser kam nach einer Untersuchung der Klägerin im Oktober 2011 im Wesentlichen zu dem Ergebnis, bei der Klägerin fänden sich bei der Untersuchung keine Hinweise für eine posttraumatische Belastungsstörung. Insbesondere verneine die Klägerin Intrusionen bzw. Flashbacks. Außer dem Vermeiden von öffentlichen Verkehrsmitteln werde ein sonstiges Vermeiden im Sinne von Umständen, oder Personen, die im Zusammenhang mit der Tat stehen würden, nicht angegeben. Es ergäben sich Hinweise für einen Vorschaden. Im Oktober 2003 sowie Juni und Juli 2006 sei die Klägerin wegen einer somatoformen Störung behandelt worden. 2006 sei sie stationär aufgenommen worden, da sie sich damals überlastet gefühlt habe. Die Symptomatik habe im Zusammenhang mit der Erkrankung und dem Tod der Mutter gestanden. Außerdem gebe die Klägerin seit der Geburt ihrer Tochter vermehrt Versagensängste an. Seit dem Auftreten der Krebserkrankung der Mutter im Jahr 1995 sei sie wegen dieser Problematik regelmäßig in ambulanter nervenärztlicher Behandlung bei Dr. W . Aufgrund der biographischen Anamnese beständen seit der Kindheit eine Angstproblematik. Die Klägerin beschreibe zudem als Nachschaden Probleme mit der Ex-Freundin ihres letzten Partners, durch die sie weiterhin noch belästigt werde. Deshalb könne sie Nähe nicht mehr so zulassen. Wegen der mittelgradig ausgeprägten Hoffnungslosigkeit sei auf die angespannte finanzielle Situation der Klägerin hinzuweisen, die sich nach dem Ereignis gebildet habe.

Die Stichverletzung habe zu einer Verletzung der Strecksehne des 5. Strahls rechts geführt, die im März 2008 operativ versorgt worden sei. Jetzt falle eine Abduktionsunfähigkeit des Kleinfingers auf, der sich in leichter Abduktionsstellung befinde. Die Bewegungseinschränkung des rechten Kleinfingers sei auf das schädigende Ereignis zurückzuführen. Eine Angst- und depressive Störung gemischt sei allerdings nicht nur dem schädigenden Ereignis anzulasten. Die Angst- und depressive Störung gemischt sei mit einem Gd...

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